Gesammelte Werke | Nachtrag


Proletarische Hoffnungen und Aktionen” [Teil 1]

(unvollständiges und unveröffentlicht gebliebenes Manuskript aus dem Winter 1917/18)

Übersicht - Teil 1:
Vorwort
1  Proletarische Hoffnungen
1.1  Die Hoffnungen auf den Weltkrieg
1.2  Die Hoffnungen auf die Weltrevolution
1.3  Die Hoffnung auf die „Konzentration des Kapitals“
1.4  Die Anziehungskraft des Zukunftsstaates auf die nichtsozialistischen Arbeiter
2  Was uns die Ruinen Babylons, Athens, Roms sagen

Vorwort

Die sozialen, wirtschaftlichen Einrichtungen sind Menschenwerk. Der Mensch entwickelt sie vorwärts oder rückwärts, je nach den Wünschen und nach der Erkenntnis der jeweiligen Machthaber, wie das schon aus den Parteibenennungen Konservativer, Reaktionär, Sozialist, Anarchist usw. hervorgeht. Eine gesetzmäßig und automatisch sich vollziehende Entwicklung, wie man sie in der Natur beobachtet, gibt es hier nicht. Der Glaube an die Entwicklung des kapitalistischen Staates zum sozialen Gebilde ist ein Märchen. Der Mechanismus, der zum Kapitalismus führt, muss zerstört werden. Und diese Zerstörung erfordert eine Tat. Solange diese Tat nicht getan wird, ist alles vertan, was die Arbeitenden aller Stände und Berufe tun werden.

1     Proletarische Hoffnungen
1.1  Die Hoffnungen auf den Weltkrieg

Als der Krieg ausbrach, witterten einige Sozialisten Morgenluft. Wo sollte es jetzt losgehen? Natürlich dort, wo der „Kapitalismus“ am weitesten fortgeschritten war. In England? In Deutschland? Wahrscheinlich in Frankreich, wo ja schon die eine Hälfte des Volkes ganz, die andere halb von Renten lebte – denn die „Entwicklung des Kapitalismus“ misst man an der Zahl und am Gewicht der Rentner (Rentiers). Dort, wo die Masse des Volkes, die überwältigende Majorität, aus Rentnern (Rentiers) bestand, da musste es zuerst losgehen.

   Aber die Proletarier rebellierten nicht. Die wenigen, die es versuchten, sind still, ohne Sang und Klang hinter Gefängnismauern um die Ecke gebracht worden. Wenigstens hat man von solchen Rebellionen nichts gehört. Der Ruf „Proletarier aller Länder, seid einig“ verhallte im Waffengeklirr. Dafür aber wurde das Kommando der Offiziere „Proletarier aller Länder, schießt euch gegenseitig tot“ mit Kadavergehorsam ausgeführt. Viele Führer der Proletarier stießen zuletzt am lautesten ins Kriegshorn.

   Die Morgenluft verwehte; geblieben ist vom Internationalismus der Katzenjammer des Bewusstseins, eine traurige Rolle gespielt zu haben. Wer die Macht richtig einzuschätzen wusste, die dem Staate das Nachrichtenmonopol verschafft, der wusste, dass es so kommen würde. Die Zensur modelte die Geister, wie der Staat sie brauchte, und die Flintenläufe nahmen automatisch die Richtung, die man den Geistern mit Hilfe von Lug und Trug gegeben hat. Alle Hoffnungen, die der Proletarier auf den Krieg gesetzt hatte, waren dahin.

   Und es ist fast gut, dass es so gekommen ist. Vom Kriege dürfen und wollen wir nichts Gutes erwarten, auch keine Morgenluft. Ungeziefer, Seuchen, Hunger soll uns der Krieg bringen, keine soziale Umgestaltung. Aus besudelten und bluttriefenden Händen wollen wir die Befreiung nicht annehmen. Ceres, nicht Mars soll die Grundmauern des Staates legen. Wir hassen den Krieg, selbst wenn er uns beschenken will. Die Befreiung ist eine Kulturtat und Kultur kann uns nur der Friede bringen. Der Friede bereitet die Geister für die Freiheit vor, er zerfrisst sicher und schnell die Ketten. Er schafft die stolzen Männer, die keine Ketten sehen wollen, weder bei sich noch bei anderen. Ja, gerade bei den anderen nicht. Der Krieg verdirbt diese Männer. Ein Tag, ein einziger, dem die Menschen im Kriegsgeist verlebt hatten, genügte, um das geistige Werk von Jahrzehnten zu vernichten. Noch bevor der Hahn kräht, bevor noch ein Schuss abgegeben, hatten die Proletarier aller Länder sich gegenseitig verraten.

1.2   Die Hoffnungen auf die Weltrevolution

Aber den Russen hat doch der Krieg die Revolution ermöglicht. Ganz recht. Was die Russen jetzt haben, ist eine Frucht des Krieges. Sie sieht auch danach aus. Ein Schritt vorwärts auf der … kapitalistischen Bahn. Das ist der Erfolg. Ein Agrarstaat, wo der Großgrundbesitz zerschlagen und die Stücke unter die Bauern verteilt werden. Wie der Mantel Christi unter die Soldaten. Und diese Bauern halten ihre Stücke jetzt fest. Mit vier Ochsen kann man den russischen Bauern jetzt nicht mehr von ‚seiner’ Scholle reißen. Die Pest des Privatgrundbesitzes hat jetzt in Russland das ganze Volk ergriffen und Wurzeln geschlagen. Was die Schweizer Bauern haben, das haben jetzt die russischen Bauern auch und sie werden auch bald alles haben, was dazu gehört – Hypothekenbanken, Agrarpolitik und den Gegensatz zur Industriebevölkerung. Wer in Russland geistig oder physisch unfähig ist, eine Bauernwirtschaft selbstständig zu leiten – und das ist überall ein großer Teil des Volkes - , oder wer Unglück hat, wer viele Erben hinterlässt, dessen Acker geht der Familie mit absoluter Sicherheit verloren, der verfällt dem Proletariat, wie in der Schweiz. Es werden keine 50 Jahre verstreichen, da wird das russische Land nur mehr dem Namen nach den Bolschwiks gehören, sachlich gehört es dann den Hypothekengläubigern, die in der Hauptstadt die Renten verprassen. Dann werden die russischen Bauern von der „Not der Landwirtschaft“ reden, über die Forderungen der Lohnarbeiter schimpfen, die die „herrlichen Zeiten“ der Leibeigenschaft zurück wünschen werden. Und um die aufsässigen Knecht in der Macht zu behalten, werden die von den Hypotheken ausgeplünderten Bauern die Wiedereinführung der Staatskirche und Staatsschulen fordern, wo man die Kinder der Knechte zu unterwürfigen, bescheidenen, fleißigen Haustieren heranbildet – wie in der Schweiz. Der soziale Druck geht eben, wie das Wasser, immer bergab. Von den Rentnern (Rentiers), den Hypothekengläubigern, geht er aus auf die Bauern, die ihn auf die Knechte abzuwälzen suchen – dem Gesetze des geringsten Widerstandes folgend.

   Die Bolschewiks haben das Privateigentum dort eingeführt, wo sie es hätten abschaffen müssen; dafür haben sie es abgeschafft, wo sie es hätten erhalten und sichern müssen, nämlich in der Industrie.

   Um die Freiheit und Selbstständigkeit des Mannes zu begründen, zu sichern und überhaupt zu ermöglichen, muss der Boden mit allen Rohstoffen als unveräußerliches Volkseigentum erklärt und parzellenweise der privaten Bewirtschaftung in Pacht übergeben werden. Damit wird jede Möglichkeit der Ausbeutung ausgeschaltet, jede Trustbildung, jedes Monopol gebrochen. Die Unveräußerlichkeit des Bodens, die öffentliche Verpachtung ist das einzig wirksame Mittel, um die Massen vor Knechtschaft, Pauperismus und Ausbeutung zu sichern, um auch dem unselbstständigen Knecht das Recht auf den vollen Arbeitsertrag zu sichern. Auf freiem Boden allein kann ein freies Volk stehen. Und die Freiheit gehört zu Arbeit – nur unter freien Männern gedeiht sie. Staatsbetrieb ist Staatsknechtschaft und von Knechten können wir nur Knechtsarbeit erwarten. Staatsbetrieb ist Unsinn. Unzählige Versuche haben das erfahrungsmäßig auch denen klar gemacht, die sich theoretisch nicht belehren lassen. Warum das so ist? Weil die Privatwirtschaft auf dem Selbsterhaltungstrieb, der Staatsbetrieb oder Kommunismus auf dem Arterhaltungstrieb gründet und weil der Selbsterhaltungstrieb als der primäre stärker ist als der sekundäre Trieb der Arterhaltung. Der Arterhaltungstrieb ist ja nur erweiterte Selbsterhaltung, ein Mittel, das Ich zu erhalten. Der Weitsichtige ist Altruist aus Egoismus. Der Kurzsichtige, der die zusammenhänge nicht überblickt, ist nur Egoist – und das ist die große Masse. Die große Masse liefert darum auch immer schlechte Kommunisten. Helden sind selten. Und der Mann muss ein Held sein, der sich als Kommunist bewähren will. Darum, aus diesen natürlichen Gründen muss eine Wirtschaft, die mehr mit den altruistischen als mit den egoistischen trieben rechnet, um so viel schwächer sein als die Privatwirtschaft, wie der Altruismus als Kraftquelle schwächer ist als der Egoismus. Wer für sich, unmittelbar für sich arbeitet, arbeitet besser, intensiver und namentlich intelligenter als der, dem die Frucht der persönlichen Arbeit nur auf dem weiten Umweg des Gemeinwohls zugute kommt. Das zeigt auch schon die Arbeit bei Stücklohn und Tagelohn, das zeigt die Art, wie der Staatsbeamte und der Privatmann das Publikum bedient. Das zeigt die Tatsache, dass die tüchtigen Arbeiter immer den Lohnkommunismus abgelehnt haben. Den Privatarzt (Egoisten) weckt eine Hausschelle aus dem tiefsten Schlaf – um einen Staatsarzt (Altruisten) zu wecken, muss man schon die Feuerglocke läuten. Dann kommt er mürrisch und zu spät.

   Auch in Russland ist es so. Auch den russischen Kommunisten und Altruisten braucht man nur zu kratzen – dann schaut gleich der Egoist hervor. Darum leistet auch in Russland der industrielle Kommunismus nicht das, was der Privatbetrieb in den anderen Ländern leistet. Wenn nur das Experiment den Russen nicht noch die staatliche Selbstständigkeit kostet! Denn die Welt gehört nun mal denen, die nach dem leistungsfähigsten System arbeiten. Leistung ist Macht – wer in der Leistung ins Hintertreffen kommt, verliert seine Selbstständigkeit.

1.3   Die Hoffnung auf die „Konzentration des Kapitals“

Eine andere, ebenso trügerische sozialistische Hoffnung ist die erwartete Konzentration des Kapitals (die nicht mit Kapitalvermehrung zu verwechseln ist) in immer weniger Händen, womit dann eine entsprechende Vermehrung des Proletariats und proletarischer Wahlzettel einhergehen werde. Diese Konzentration des Kapitals, so sagt man, gehe gesetzmäßig vor sich, ohne dass der Mensch direkt daran mitwirkt, so dass das Proletariat ebenfalls gesetzmäßig zur Ausschlag gebenden Partei heranwachsen müsse. Automatisch als unabwendbares Geschick müsse dem Proletariat die Übermacht zufallen, trotz etwaigen Gebärstreiks der Proletarierinnen und der großen Sterblichkeit in den Proletarierfamilien. (Seine etymologische Bedeutung hat das Wort Proletariat längst verloren.) Dann setzt die Diktatur des Proletariats ein, dann spielt das Proletariat mit dem Kapital wie die Katze mit der Maus. Der Proletarier braucht sich nur unter den Baum zu legen, dann fällt ihm der Zukunftsstaat in Form des Wahlzettels als reife Frucht in den Mund. (Die Frage, ob die Kapitalisten in der schweizerischen Demokratie so ganz einfach vor der Wahlurne kapitulieren würden, mögen andere beantworten.)

   Sehen wir uns auch diesen Glaubensartikel näher an. Manche Tatsachen widersprechen ihm, Tatsachen, die wir alle kontrollieren können. Da ist z.B. das Bodenkapital, das durch die regelmäßig vor sich gehenden Erbschaftsteilungen eher zentrifugalen als zentripetalen Kräften ausgesetzt ist. Durch das Erstgeburtsrecht und durch Fideikommisse suchte man früher der Pulverisierung des Bodenkapitals entgegenzuwirken. Heute erstrebt man dasselbe Ziel durch Schutzzölle, deren Kosten das Proletariat zahlen soll. Das sind doch keine Zeichen einer gesetzmäßig und automatisch vor sich gehenden Konzentration. Heute sind die Bauern nur mehr dem Namen nach Eigentümer des Bodens; die eigentlichen Besitzer sind die Inhaber der Hypotheken und Pfandbriefe. Den Grundbesitz darf man darum heute nicht nur auf dem Lande suchen, sondern in den Tresoren der Banken. Auf 1000 Grundbesitzer gibt es vielleicht 5000 Pfandbriefbesitzer. Wo ist da die Konzentration?

   Dabei ist das Bodenkapital seiner Natur nach verhältnismäßig leicht zu verwalten und erfreut sich außerdem noch besonderer Sympathien der Gesetzgeber (siehe die agrarische Gesetzgebung in allen Ländern, die nichts anderes ist als eine künstliche Verlangsamung des natürlichen Zerfalles des Bodenkapitals!). Und wenn es so mit dem Hauptkapitalstück, dem Boden, steht, warum soll es mit den anderen Kapitalien anders sein?

   Die Erbschaftsgesetze, die das Bodenkapital zerzetteln, tun dasselbe auch mit den übrigen Kapitalien. Bernstein war’s, der für nötig hielt, es einmal in gründlicher Weise zu zeigen, dass die heutigen Riesenbetriebe an sich durchaus kein Beweis der Kapitalkonzentration seien, insofern als die Aktien dieser Unternehmungen in vielen Händen zu sein pflegen. (Eduard Bernstein, Die heutige Einkommensbewegung) Zuweilen sind die Arbeiter selber Besitzer solcher Aktien. (Die Goldminenaktien Afrikas lauten vielfach auf 1 Pfund = 25 Franken). Sicher werden bei den Wahlurnen die Riesenwerke nicht von einzelnen Personen, sondern von Millionen von Aktionären verteidigt. Und den Großgrundbesitz verteidigen dort die Pfandbriefbesitzer, die unter Umständen zahlreicher sein mögen als das den Großgrundbesitz bearbeitende Proletariat.

   Aber abgesehen hiervon! Nehmen wir einmal an, eine Kapitalkonzentration fände wirklich statt, und zwar gesetzmäßig und in der von den Proletariern erhofften Progression, so wird man immer noch sich fragen müssen, ob die Kapitalisten solche für sie zur politischen Gefahr werdende Konzentration nicht selbst wieder sabotieren und verhindern werden? Wer hindert sie denn daran, durch Erbschafts- und Steuergesetze der weiteren Proletarisierung der Volksmassen entgegenzuwirken? Sicher werden es die Sozialdemokraten nicht sein, die sie daran hindern werden, denn gerade sie fordern immer wieder die progressive Einkommenssteuer! Diese Steuer ist aber das gegebene Mittel, die Kapitalkonzentration in der für den Fortbestand der kapitalistischen Herrschaft nötigen Grenze zurück zu dämmen. Wie die Kapitalisten durch den Schutzzoll den Grundbesitz zu retten versuchten – so werden sie im entgegen gesetzten Fall durch Importprämien den Grundbesitz zerschlagen, falls sie das für ihre Herrscherstellung für nötig halten. Nötigenfalls verschenkt der Kapitalist einen Teil seiner Habe an Proletarier und verwandelt diese so in eine politische Schutztruppe. Wenn der König von England ein Gesetz durchdrücken will, so bedient er sich dazu des sogen. Pairschub (Pairschub: das Recht der Krone, eine Anzahl von Pairs willkürlich zu ernennen, um der Regierung die Majorität in der ersten Kammer zu sichern). Und wenn die Kapitalisten sich die Macht sichern wollen, so werden sie sich desselben Mittels bedienen. Mit einer Aktie, einem Sparkassenbuch, einer unentgeltlichen Grabstätte kann man zu jeder Zeit die Pairs von links nach rechts schieben und Rot in Gelb verwandeln.

   Man wird vielleicht sagen, dass die Kapitalisten zu kurzsichtig seien für solche Politik der Selbstverstümmelung, dass der Kapitalist blindlings sein Ziel, die Vergrößerung „seines“ Besitzes verfolgen wird. Da wären z.B. die amerikanischen Milliardäre. Doch da unterschätzt man den Weitblick dieser Klasse.  So lange das ganze Volk dem Dollar nachjagt, wissen Morgan und Konsorten, dass sie nichts zu fürchten haben. Sie haben mit ihren Milliarden die Presse, sogar die Hochschulen und die Kirchen. Da hat es vorläufig keine Gefahr. Der Kampf gegen die Fideikommissbildung, das Interesse derselben bürgerlichen Kreise für den Kleingrundbesitz (small holdings in England) entspringen diesem kapitalistischen Selbsterhaltungstrieb. Und im Übrigen erinnere man sich hier des Ausspruches des Zaren Alexander II.: „Entweder revolutionieren wir von oben oder die Mujiks tun es von unten; entweder geben wir den Mujik freiwillig (?) einen Teil unseres Grundbesitzes oder die Mujik nehmen sich das Ganze.“

   Dieser Ausspruch zeugt am besten für die Aussichtslosigkeit der auf die Kapitalkonzentration sich stützenden proletarischen Hoffnungen. Die Kapitalkonzentration wird – wenn sie vor sich gehen sollte – niemals die Grenze politischer Gefahr überschreiten. Der Kapitalist wird diese Entwicklung immer selber sabotieren; das Proletariat wird immer in der Minderheit gehalten werden.

   Ein anderes, höchst wirksames Mittel, die Kapitalkonzentration immer und immer wieder zu sabotieren, haben die Kapitalisten in den Währungspfuschereien zur Verfügung. So war in den Jahren 1875 – 1885 durch Einführung der Goldwährung der verschuldete Grundbesitz in höchste Not geraten und die Gefahr lag nahe, dass der Boden in seiner Gesamtheit unter den Hammer kommen würde. Dann hätte sich wiederholt, was sich im alten Rom ereignete, als die Silberbergwerke Spaniens, die den Stoff für die Geldfabrikation der Römer lieferten, erschöpft waren und wegen Mangel an Geld die Preise der landwirtschaftlichen Produkte so weit sanken, dass die Bauern die Hypotheken nicht mehr verzinsen konnten. Damals wurde in Rom in Folge dieser Währungsnöte der Boden zu Latifundien zusammen gewuchert. Da man in jener Zeit das Papiergeld noch nicht kannte, auch solches ohne die Buchdruckerfindung nicht hätte machen können, und auch damals die Goldproduktion zugleich mit der des Silbers versagte – so blieb den Römern nichts anderes übrig als dem „Kladderadatsch“ tatenlos zuzusehen. Mit jener Latifundienbildung (Kapitalkonzentration) ging Rom und das Kapital fast spurlos zu Grunde.

   Was taten nun die Agrarier in Deutschland, Frankreich und Nordamerika, um der drohenden Gefahr der Latifundienbildung zu begegnen? Sie forderten die Rückkehr zum Bimetallismus und erreichten wenigstens, dass die Liquidation der Silbermünzenbestände aufgehoben oder wenigstens verzögert wurde. (Noch heute sind die Fünfliber im Umlauf, ebenso die Silbernoten der Vereinigten Staaten). Daneben setzten sie Sperrzölle durch für alle landwirtschaftlichen Produkte – die wenigstens vorübergehend helfen sollten und auch halfen. So gelang es ihnen, den weiteren Rückgang der Preise zu verhindern, bis im Jahre 1890 die ungeheuren Goldfunde in Afrika dem Preisrückgang und damit der Not der Grundbesitzer ein Ende machten.

   Heute brauchen die Kapitalisten keine Doppelwährung, keine Sperrzölle und dergleichen mehr, um die Preise auf gewünschter Höhe zu halten. Sie haben gelernt, Geld aus Papier zu machen und damit verfügen sie über ein unfehlbares Mittel, die Kapitalkonzentration zu jeder Zeit zu sabotieren und sich dadurch ewig die Majorität zu erhalten. So hat z.B. die Nationalbank seit Beginn des Krieges ihren Notenumlauf verdoppelt und dadurch alle Preise willkürlich in die Höhe getrieben.

   Die Bauern, Handwerker, Unternehmer, Kaufleute sehen, dass durch diesen einfachen Streich ihre Aktiva (Viehherden, Acker, Waren, Häuser, Maschinen u.s.w.) sich verdoppelt haben, während ihre Passiva (Hypotheken, Wechsel, Obligationen, Schuldscheine usw.) unverändert blieben. Sie sehen, dass sie so 50 Prozent ihrer Schulden losgeworden sind. (Im Grunde genommen die uralte mosaische Sabotage der Kapitalkonzentration; ein Jubeljahr auf 50% herabgesetzt.) Da nun fast das gesamte Kapital eines Landes bei der ausgedehnten modernen Kreditwirtschaft die Form von Geldforderungen genommen hat, so kann man sagen, dass durch die genannte Kapitalsabotage der Nationalbank die Hälfte des gesamten Kapitals von den Gläubigern auf die Schuldner übergegangen ist, also eine Kapitalzersplitterung größten Stils, die die Nationalbank nach Belieben fortsetzen und wiederholen kann, wenn es aus politischen Gründen ratsam erscheint, der Proletarisierung der Volksmassen Halt zu gebieten. Wer die Währung beherrscht, kann zu jeder Zeit und in beliebigem Umfang Pairschub vornehmen und seinem Anhang so die Macht erhalten.

   Der Kapitalist ist also wie die Bakterie stets und in fast beliebigem Umfang teilbar. Der Proletarier aber ist unteilbar.

   Ein Milliardär kann zu jeder Zeit in 50.000 Miniatur-Rentiers von je 1000 Franken Einkommen zerlegt werden. Wirtschaftlich ist das für das Proletariat gleichgültig, wie es dem Schafe gleichgültig ist, ob es vom Wolf oder den Räudemilben gefressen wird. Politisch ist es jedoch nicht einerlei, ob eine Milliarde Kapital bei den Wahlurnen von einem Milliardär oder von 50.000 kleinen Rentiers vertreten wird. Auch darf hier nicht vergessen werden, dass bei der gewaltigen Produktionskraft des mit modernen Maschinen ausgerüsteten und geschulten Arbeiters (Ausdruck aus dem Erfurter Programm) ganz gut einmal eine Zeit kommen kann, wo das heutige Verhältnis zwischen der Zahl der Arbeiter und Rentiers auf den Kopf gestellt und auf jeden Arbeiter mehrere, wenn auch nur kleine Rentiers (wie in Frankreich) kommen werden, wo das Wort „die große Masse“ sich auf die Schmarotzer beziehen wird. Wie könnte in solchem Falle der Arbeiter dann noch durch den Wahlzettel zur Herrschaft kommen?

 Proletarier, die ihr vom Wahlzettel die Vormacht erwartet! Es ist ein Traum! (Dass die Wahlzettelpolitik Unsinn ist, haben auch schon die norwegischen Minderheitssozialdemokraten erkannt und erklärt. Sie sagen in ihrem Beschluss: Die Sozialdemokratie kann das Recht der besitzenden Klassen, die Arbeiter auszubeuten, nicht anerkennen, selbst wenn sich dieses Recht auf eine Majorität in der Gesetzgebung stützt! La Sentinelle 10/4  1914. Mit dem Majoritätsschwindel wird das Proletariat ewig ausgebeutet werden.)

1.4  Die Anziehungskraft des Zukunftsstaates auf die nicht-sozialistischen Arbeiter

Der Proletarier hat so oft von der großen wimmelnden grauen Masse gehört, dass er sich für unüberwindlich hält. Doch überschätzt er seine Zahl und damit auch seine Macht. Sie ist gar nicht so groß im Vergleich zu den Volkselementen, die sich nicht zu den Proletariern rechnen. Ja, wenn alle die, die sich im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen müssen, geschlossen gegen den gemeinsamen Feind – den Zinsbezüger – vorgingen, dann brauchten sie ja nicht einmal politisch die Mehrzahl zu sein, um ihren Willen durchzusetzen. Was könnten die Zinsbezüger tun, wenn alle die, die arbeiten, sich gegen sie wendeten? Deshalb ist es ja auch ganz richtig, wenn der Arbeiter singt:

„Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will!“

   Was will der Rentier, wenn alle Räder still stehen? Als Arbeiter im Sinne dieses „starken Armes“ müssen wir aber nicht allein den eigentlichen Lohnarbeiter betrachten, sondern alle, die nicht von Zinsen leben – also die Bauern, Kaufleute, Beamten, Ingenieure, Chemiker, Baumeister, Künstler, Geistliche, Lehrer, Ärzte - kurz jeder, der nur dann essen kann, wenn er arbeitet. Nur dann, wenn es gelingt, alle diese Arbeiter unter einen Hut zu bringen, werden auf das Kommando „Stillgestanden“ alle Räder auch wirklich still stehen.

   Und wie sieht es nun mit der Anziehungskraft aus, den der proletarische Zukunftsstaat auf die „Arbeiter“ ausübt? Das Programm des Zukunftsstaates müsste m.E. von Leuten entworfen werden, die einen Einblick in das Leben und Treiben der Menschen geworfen haben, die sich heute ihr Leben in Freiheit gestalten können. Denn der Zukunftsstaat soll doch ein Fortschritt sein. Das Leben im Zukunftsstaat soll frei, schön, sorglos sein – aber was weiß der Arbeiter heute aus persönlicher Erfahrung, was ein schönes, freies Leben ist? Wenn jemand zum Baumeister des Zukunftsstaates berufen wäre, so müsste das m.E. eher der Rentier sein. Das Leben, das dieser heute führt, mit den „Beschränkungen“, die die Arbeit mit sich bringt, das sei das Leben aller – im Zukunftsstaat.

   Das höchste Gut ist die Unabhängigkeit, die Freizügigkeit, die Selbstverantwortung. Wer diese Güter auch nur 14 Tage genossen hat, wird vom proletarischen Zukunftsstaat mit seiner allgemeinen Verstaatlichung, Gebundenheit, Bevormundung nichts wissen wollen. Mit diesem Programm kann man bei den oben genannten Arbeiterkategorien nicht krebsen gehen. Sie werden ausnahmslos sagen: Lieber ertrage ich die kapitalistische Ausbeutung, als dass ich mich zum Staatsknecht degradieren lasse. Mit dem proletarischen Zukunftsstaat kann man nur auf den Hund gekommene Menschen vom Ofen locken. Menschen, die sich sagen: Im kommunistischen Staate kann es auch im schlimmsten Fall nicht schlimmer gehen als heute. Leute, die nichts zu verlieren haben, sind nicht die geeigneten Architekten des Zukunftsstaates.

   Sieht man ab von dem Druck, den der Kapitalismus auf alle Arbeiterklassen ausübt (und zwar proportional dem Einkommen!), so ist die Freiheit, die die heutige Wirtschaftsordnung dem Menschen bietet, fast eine ideale. Sobald man seine Steuern bezahlt hat und sich hütet, gegen die Gesetze zu handeln, kümmert sich der Staat nicht mehr um uns. Wir können tun und lassen, was wir wollen – im Umfange unserer Mittel. Kein Mensch fragt danach, wie wir unser Leben gestalten wollen, was wir mit unserem Geld machen, warum wir hierhin, dorthin reisen. Wir wohnen, wo wir wollen, wählen unsere Berufsarbeit, studieren oder verbringen unsere Zeit am Biertisch. Niemandem sind wir Rechenschaft schuldig. Wären wir die Zinsbezüger los, Götter könnten uns beneiden. Es steht jedem frei, sich als Dichter, Künstler, Schriftsteller auszugeben und zu benehmen. Kein Mensch fordert vom Künstler eine staatliche Approbation. Es ist seine Sache, ob er Absatz für seine Werke und Machwerke findet. Findet er keinen Absatz, hungert er, so darf er den Staat dafür nicht verantwortlich machen. Findet der Schriftsteller keinen Verleger, so kann er immer noch auf eigene Kosten seine Werke drucken lassen, wobei ihn seine Freunde unterstützen mögen.

   Wie soll das alles im Staatssozialismus geregelt werden? Wie soll man da noch eine staatsfeindliche Zeitung in den Staatsdruckereien auf Staatskosten drucken lassen können und sich den Schriftstellerlohn aus der Staatskasse bezahlen lassen? Wie sollte eine Arbeitergruppe ihrer Opposition Ausdruck geben können? Darüber können die Berner Genossen vielleicht Auskunft geben. Wer soll die Künstler und Erfinder ernennen? – Der Bürokrat. Wer gibt ihnen die Aufträge? – Der Bürokrat. Wer führt die phantastischen Pläne der Erfinder aus? – Der Bürokrat. Wer lässt kein grünes Hälmchen mehr wachsen? – Der Bürokrat.

   Acht Stunden täglich sollen alle dichten, meißeln, malen, erfinden. Und acht Stunden täglich soll der einsame Bauer auf dem Berg die Kühe hüten!

   Dem bedrückten Manne in der finsteren Kohlengrube, in der lärmenden Fabrik, vor den Glutmassen des Hochofens möge das alles nur Kleinigkeiten bedeuten. Und jeder, der in solcher schrecklichen Lage ist, wird vernünftigerweise so urteilen. Aber nach Abschüttelung des Schmarotzertums sollen sich ja die Verhältnisse für  A l l e  in der Art bessern, dass sie zur Besinnung kommen. Und mit der Besinnung kommt der Drang nach Freiheit und Selbständigkeit, kommt der unüberwindliche Widerwille gegen die Bevormundung, der Hass gegenüber dem nun zur Wirklichkeit gewordenen Zukunftsstaat. Mit absoluter Sicherheit würde der Wohlstand, den man vom Zukunftsstaat erwartet, den Geist erwecken, der diesen Zukunftsstaat in Trümmer schlagen wird. Er würde – vorausgesetzt, dass er den Wohlstand brächte – sich selbst aus den Angeln heben.

   Wenn es darum nicht gelingt, dem Zukunftsstaat eine Verfassung zu geben, die die Freiheit, Selbstverantwortung, Selbständigkeit aller Bürger gewährleistet und den Kommunismus niemandem aufzwingt, bleibt die Hoffnung auf eine Vereinigung aller Arbeiter und damit auf die Übermacht des Arbeiterstandes – eine eitle. (Niemand hindert die Sozialisten daran, heute schon kommunistisch zu leben. Sie können, wenn sie wollen, den Kommunismus auf Weiber, Kinder und namentlich auf den Lohn übertragen. Niemand wird sie darin stören. Dass das nicht geschieht, zeugt wider den kommunistischen Geist.)

2   Was uns die Ruinen Babylons, Athens, Roms sagen 

Wer Übung darin hat, die Geschichte der Völker durch die wirtschaftliche Brille zu betrachten, kommt leicht auf den Gedanken, dass der Untergang der antiken Staaten einem Kladderadatsch zuzuschreiben ist, gleich dem, den Bebel unserer Wirtschaft prophezeite auf Grund der unmöglichen Verhältnisse, die die Zinses-Zins-Rechnung schafft. Wie aber im Kapitel 1.3 gezeigt wurde, kann der Kapitalismus sich gar nicht über eine bestimmte Grenze hinaus entwickeln, infolge der hier einsetzenden Selbststeuerung oder Autosabotage. Wenn wir also den Untergang Roms, Babylons, Jerusalems wirtschaftlich erklären wollen, so müssen wir das Problem von einer anderen Seite anfassen, und zwar von der Seite der Geldfabrikation.

   Kultur ist nichts anderes als Arbeitsteilung, und die Arbeitsteilung liefert Waren, die durchaus auf Austausch angewiesen sind. Nur so weit der Tausch möglich ist, kann sich die Arbeitsteilung und damit die Kultur entwickeln.

   Bei entwickelter Arbeitsteilung wird der Gebrauch eines Tauschmittels, d.h. des Geldes, unentratbar, der direkte Tausch (Tauschhandel) stößt bald auf Schwierigkeiten, die nur mit dem Gebrauch des Geldes zu lösen sind. Erst mit dem Geld kann sich der Handel, der Austausch der Produkte, freier entwickeln. Darum sind der Tausch, die Arbeitsteilung, die Kultur – und die Macht der Staaten durchaus abhängig vom Gebrauch eines Tauschmittels, des Geldes.

   Je besser das Tauschmittel seinen Dienst versieht, umso höher die Kultur, umso größer die Macht des Staates. (Man beachte, dass die Waffen der römischen Soldaten Produkte der Arbeitsteilung waren.)

   Nun ist es eine Tatsache, die man heute selbst bei den „wissenschaftlich“ vorgehenden Sozialisten noch wenig oder gar nicht beachtet findet, dass der Handel, der Austausch der Waren, und damit die Arbeitsteilung bei rückgängigen (fallenden) Preisen rechnerisch unmöglich wird. Wer in Perioden rückgängiger Preise irgendein Geschäft oder eine Industrie gründet oder ein landwirtschaftliches Unternehmen mit Hilfe von Hypotheken ersteht, der wird aller Regel nach Geld verlieren. Und wenn diese rückgängige Periode lang genug anhält, werden schließlich die Aktiva durch die Passiva ganz verschlungen. Arbeitslosigkeit, Krisen, Zahlungseinstellungen wird man als allgemeine Erscheinung immer nur bei weichenden Preisen beobachten. (Anm: Wer die Erklärung dazu will, lasse sich die Schriften des Schweizer Freiland- und Freigeld-Bundes kommen.)

   Die Preise fallen aber dann, wenn es an Geldstoff fehlt und wenn wegen mangelnder Geldfabrikation der Markt ungenügend mit Geld versorgt wird. Geldmangel bedeutet also Preisfall und Preisfall bedeutet Krise, Bankrott der Kaufleute, Unternehmer und Landwirte.

   Geldmangel führt zu einem allgemeinen Krebsgang und, wenn er andauert, zur Einstellung der Arbeitsteilung und zum Verlust aller Vorteile, die uns diese bietet. Geldmangel und Rückgang der Warenpreise bricht die Macht jedes Kulturstaates. Dann kommen die Barbaren und überrennen den wehrlos gewordenen Staat.

   So war es in Rom, in Babylon, in Jerusalem. In Jerusalem hatte Salomon das Geld zu Zierrat für den Tempel einschmelzen lassen. (s. Barnabas: Joseph, Salomo und die Kriegsfinanzen. Verlag des Schweiz. Freiland- und Freigeld- Bundes) So fehlte das Geld für den Handel und für die auf Arbeitsteilung eingestellte Industrie. Der „weise“ Salomon vernichtete so die Ursache der Blüte seines Staates. In Rom konnte man kein Geld mehr machen, weil die das Silber liefernden spanischen Bergwerke abgebaut waren. Etwa vom Jahre 100 n.Chr. bis zum Ende des Mittelalters waren die Geldmetallfunde durchaus unzulänglich, um den Abgang an Geld zu ersetzen, den der Verschleiß und das Verlieren, Vergraben der Münzen, die Verarbeitung der Münzen zu Zierrat und religiösen Gefäßen und der damals schon immer passive Handel mit dem Orient mit sich brachten.

   Die Ruinen der untergegangenen Städte beweisen also durchaus nicht, dass sich dort etwa der Kapitalismus zu Tode entwickelt hatte. Sie zeigen nur, wie es der Arbeitsteilung und damit auch der Kultur und der Macht der Völker ergeht, wenn man die Herstellung des Geldes vom Zufall der Gold- und Silberfunde abhängig macht. Von einem Kladderadatsch, von einer Gigantanasis des Kapitals im Sinne der Bebel’schen Prophezeiung kann keine Rede sein. Jetzt, da man Geld aus Papier zu machen versteht, wird es überdies zu einem Kladderadatsch aus Geldmangel nicht mehr kommen. (s. die Schriften des Schweizer Freiland- und Freigeld-Bundes) Alle Hoffnungen auf eine „Entwickelung“ zum sozialen Staat sind eitel.

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