Dr. habil. Reiner Flik:

Marktwirtschaft ohne Kapitalismus? Silvio Gesells schöne neue Freiland-Freigeld-Welt


Übersicht:

1. Einführung
2. Das Zinsproblem
3. Geldlehre von Silvio Gesell
3.1  Enstehung
3.2  Freigeld
3.3  Freiland
4. “Marktwirtschaft ohne Kapitalismus”
5. Finanzminister in der Münchener Räterepublik (1919)
6. Das Schwundgeld von Wörgl (1932/33)
7. Nachwirkung
Literatur

Auf dem gleichen Breitegrad wie Utopia und genau 360 Grad ostwestlich dieser Insel liegt die Insel Barataria. So benannt, weil barato billig heißt, und weil auf Barataria alles erstaunlich billig war, und zwar nicht in dem wucherischen Sinne, daß man für wenig Gold viel Ware bekam – was für den, der seine Ware für wenig Gold hergeben muß, ja keinen Vorteil hat – sondern billig im sozialpolitischen Sinne, daß alle Arbeiter, ohne Ausnahme, für wenig Arbeit viel Ware eintauschen konnten. Eine rätselhafte Sache, die wir aber erklären werden.
Gesell, Gesammelte Werke, Band 14, S. 32

 

1. Einführung

Am 7. November 1918 endete in Bayern die Monarchie. Auf sie folgte ein Drama, das für Revolutionen beinahe typisch ist. Ihre Anführer werden zerrieben zwischen der Front derer, denen der Umsturz nicht weit genug geht, und der Front derer, die ihn rückgängig machen wollen. Deshalb gehen viele Revolutionen aus wie das Hornberger Schießen. So auch die Münchener vom Winter 1918/19.

Zuerst regierten die Unabhängigen Sozialdemokraten, danach die Spartakisten, zuletzt die Bolschewisten. Schließlich rückte die Reichswehr ein und machte den Flügelkämpfen der Sozialisten ein Ende. Es gab schreckliche Blutbäder, bei den "Weißen" und bei den "Roten". Ende Mai 1919 waren die Machtverhältnisse in München fast wieder so wie vor der Revolution - nur eben ohne König. Um der von den Weltverbesserern aufgehetzten Truppe wieder eine rechte staatsbürgerliche Gesinnung beizubringen, veranstaltete die bayerische Reichswehr an der Universität München Kurse für redebegabte Kriegsveteranen, die noch eine Zeitlang in der Armee bleiben und als Propagandaleute subversiven Gedanken entgegentreten sollten. Ein Absolvent war Adolf Hitler. Er beschrieb diese Schulung in "Mein Kampf" (S. 228f.) als Damaskuserlebnis, das seine Anschauung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft von Grund auf verändert habe:

"Dieses wurde nun auf das gründlichste besorgt von einem der verschiedenen in dem schon erwähnten Kurse vortragenden Herren: Gottfried Feder. Zum ersten Male in meinem Leben vernahm ich eine prinzipielle Auseinandersetzung mit dem internationalen Börsen- und Leihkapital. Nachdem ich den ersten Vortrag Feders angehört hatte, zuckte mir auch sofort der Gedanke durch den Kopf, nun den Weg zu einer der wesentlichsten Voraussetzungen zur Gründung einer neuen Partei gefunden zu haben. Das Verdienst Feders beruhte in meinen Augen darin, mit rücksichtsloser Brutalität den ebenso spekulativen wie volkswirtschaftlichen Charakter des Börsen- und Leihkapitals festgelegt, seine urewige Voraussetzung des Zinses aber bloßgelegt zu haben."

Gottfried Feder war Bauingenieur, Hobby-Nationalökonom, schon vor Hitler Mitglied der Deutschen Arbeiterpartei und bis zur Machtergreifung die bedeutendste Autorität der NSDAP auf dem Gebiet der Wirtschaft und der Finanzen. Von ihm stammt die Unterscheidung der Unternehmerklasse in eine gute Fraktion - das schaffende Kapital - und eine böse Fraktion - das raffende Kapital. Zum schaffenden Kapital rechnete er in erster Linie die Industriellen, jedoch auch die Unternehmer in der Landwirtschaft, im Handwerk, im Verkehrsgewerbe usw. Das raffende Kapital bilden Bankiers, Kuponschneider, Börsenmakler und Spekulanten, also der Teil der Gesellschaft, der überwiegend vom Geldverleihen und Weiterverhandeln lebt.

Die Scheidung des Finanzkapitals vom Industriekapital geht ursprünglich auf dem französischen Frühsozialisten Pierre Joseph Proudhon zurück. Karl Marx hat sie wieder verwässert. Das Finanzkapital ist lediglich an der Rendite interessiert, nimmt bei der Verfolgung dieses Ziels auf Landesgrenzen keinerlei Rücksicht, und lebt deshalb mit dem bodenständigen schaffenden Kapital in einem natürlichen Interessenkonflikt. Im September 1919 gründete Feder den "Deutschen Kampfbund zur Brechung der Zinsknechtschaft", der sich die Abschaffung des Zinsendienstes auf Kriegsanleihe auf die Fahne schrieb. Dieser Posten verschlang 1918 bereits fünf Sechstel der Einnahmen des Deutschen Reichs aus Steuern und Eigenbetrieben, die Verzinsung der schwebenden Schuld nicht mitgerechnet. Von der Bedienung dieser Schuld erwartete Feder einen gigantischen Anstieg der Steuerquote, der das schaffende Kapital erdrosseln werde.

2. Das Zinsproblem 

Die Frage, warum manche Vermögensobjekte in der Lage sind, ihrem Eigentümer fortwährend ein arbeits- und müheloses Einkommen zu verschaffen - also einen Überschuß über das hinaus, was man in der Kosten- und Gewinnrechnung als branchenüblichen Unternehmerlohn und Prämie für ein (prinzipiell versicherbares) Kapitalrisiko verbucht -, ist ein uraltes Problem der Soziallehre. Der Kapitalzins gilt vielen als ein anderes Wort für Ausbeutung der Armen durch die Mächtigen, nicht erst seit Marx. Schon Aristoteles fand es mit der Lehre vom gerechten Tausch schwer vereinbar, daß jemand eine Summe Geldes als Darlehen hingibt und einen beträchtlich höheren Betrag zurückverlangt. Geld sei lediglich ein Tauschmittler, der nicht aus sich heraus einen Überschuß schaffen könne, lautete sein Entscheid des Zinsproblems. Die Kirchenväter gründeten darauf das kanonische Zinsverbot. Darlehen wurden in der vorindustriellen Gesellschaft hauptsächlich bei Krankheit, Teuerung, Brandkatastrophen usw. gebraucht, und wer in Not geraten ist, dem fällt die Verzinsung einer Schuld besonders schwer. Das macht verständlich, weshalb die Alten die Zinsnahme für verwerflich hielten.

Die Nationalökonomen haben unterschiedliche Begründungen entwickelt, um die Existenz des Zinses zu rechtfertigen. Die populärste heißt Abstinenztheorie des Zinses. Sie deklariert ihn als Prämie für Enthaltsamkeit. Der Darlehensgeber verzichtet für die Laufzeit des Darlehens auf den Genuß seines Vermögens, wofür er eine Entschädigung beanspruchen darf. Andere rekurrieren darauf, daß der Darlehensnehmer durch den Kredit in die Lage versetzt wird, gewinnträchtige Projekte zu realisieren. Folglich sei es nur recht und billig, wenn er seine Gläubiger am Gewinn beteiligt. Mit dieser Begründung lockerten schon die evangelischen Reformatoren das Zinsverbot. Besonders Calvin kam dem Kreditbedürfnis der Handwerker und Kaufleute entgegen mit der Lehre, daß Zinsnahme nur bei Konsumentenkredit Wucher sei, bei Investitionskredit sei sie erlaubt. Die katholische Kirche verteidigte das Zinsverbot bis 1830.

Die Debatte um die moralische Qualität des Zinses braucht hier nicht vertieft zu werden. Relevant ist einzig und allein, daß es ihn gibt, sogar in islamischen Staaten, wo das Zinsverbot noch gilt. Es wird dort eben phantasievoll umgangen. Kredit ist geborgte Verfügungsmacht über Waren und Dienste und genauso wie diese ein Handelsobjekt, das den Gesetzen von Angebot und Nachfrage unterliegt.

Vom Zins hängt es maßgeblich ab, ob die Fabrikanten neue Fabriken, die Häuslebauer neue Häuser, die Transportunternehmer neue Straßen, Eisenbahnen, Schiffe bauen usw. Und da er alle Güterpreise in einer Volkswirtschaft beeinflußt, besonders die Miete, ist die Senkung des Geldzinses ein riesiges Beschäftigungs- und Preisabbauprogramm zum Wohle der arbeitenden Klasse. Freilich läuft dies dem Interesse der Rentnerklasse zuwider. Rentiers sind eher versucht, ihr Kreditangebot so knapp zu bemessen, daß der Zins auf hohem Niveau verharrt. Sie haben es sogar in der Hand, die übrige Wirtschaft durch einen Anbieterstreik zu erpressen.

Die Wirtschaft erscheint vom Standpunkt der Warenproduzenten als Kreislauf, in dem kontinuierlich Geld in Ware und diese wiederum in Geld verwandelt wird. Ware neigt dazu, mit der Zeit an Wert zu verlieren. Sie wird vom Fortschritt der Technik überholt, kommt aus der Mode, verrostet, verschimmelt, verfault. Außerdem verursacht sie Lagerkosten. Wer Ware besitzt, hat es deshalb gewöhnlich eilig, sie wieder zu Geld zu machen. Hingegen brauchen sich die Besitzer von Geld gewöhnlich nicht zu beeilen, es in Ware umzutauschen oder es Investoren zur Verfügung zu stellen, wenn ihnen der Preis von Ware als zu hoch gestiegen bzw. der Zins zu niedrig erscheint. Geld verdirbt nicht, sofern es zweckmäßig aufbewahrt wird, und seine Lagerkosten sind unbedeutend. Wer es besitzt, kann warten, bis der Druck, der auf Warenbesitzern und Kreditnachfragern lastet, so groß wird, daß diese ihre Preisforderung mäßigen bzw. ihr Zinsgebot erhöhen.

In der Geldtheorie wird diese Wartehaltung mit der Liquiditätsprämie des Geldes erklärt. Die Sicherheit, Flexibilität usw., die der Besitz von Geld vermittelt, wiegen so schwer, daß der durchschnittliche Anleger schon bei einem Zinssatz von zwei, drei Prozent kaum mehr geneigt sein wird, es dem Kreditmarkt zur Verfügung zu stellen.

Durch die Weigerung der Geldbesitzer, das Geld kontinuierlich in Umlauf zu halten, wird der Blutkreislauf des Wirtschaftskörpers abgeschnürt, Geld und Kredit werden im Verhältnis zum Warenangebot Mangelware. Ein Teil der Produktion kann dann nicht mehr zum herrschenden Preis oder überhaupt nicht abgesetzt werden. Dadurch entstehen Verluste, Zahlungsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit. Das ist in einfachen Worten die Lehre von der Herrschaft des Finanzkapitals, das die übrige Wirtschaft in Zinsknechtschaft hält und durch seine Gier regelmäßig Wirtschaftskrisen produziert.

Die Erkenntnis der Bedeutung der Zirkulation veranlaßte bereits die Merkantilisten dazu, das Horten von Geld (Schatzbildung) zu verdammen. Ihre Forderung wurde um 1900 von einer von der Kapitalismuskritik von Marx beeinflußten, aber weltanschaulich vom Marxismus distanzierten Geldreform-Bewegung wieder aufgenommen. Der führende Theoretiker dieser Bewegung war Silvio Gesell - ein Deutscher, der 1862 in St. Vith in der Eifel (seit 1919 belgisch) geboren wurde, 25jährig nach Argentinien auswanderte und sich dort als Importhandelskaufmann und Begründer einer Kartonagefabrik ein Vermögen erwarb. Es erlaubte ihm, die zweite Hälfte seines Lebens größtenteils in Deutschland und der Schweiz als Privatgelehrter und Propagandist seiner Ideen zu verbringen.

Das Geld soll wie die Eisenbahn sein, weiter nichts als eine staatliche Einrichtung,
um den Warenaustausch zu vermitteln, wer sie benutzt, soll Fracht zahlen.
Silvio Gesell, nach: Salzmann, S. 66

 

Silvio Gesell 1895

3. Geldlehre von Silvio Gesell
3.1. Entstehung

Silvio Gesells Geldlehre ist im Kern eine Krisentheorie, eine Erklärung der Abfolge von Hochkonjunktur und Depression im Laissez-faire-System des späten 19. Jahrhunderts, das Werner Sombart Hochkapitalismus nannte. Gesell verarbeitete darin seine Erfahrung mit der Goldwährung, die im 18. Jahrhundert in Portugal und England aufkam und nach bedeutenden Goldfunden in Kalifornien (1848) und Australien (1852) im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von fast allen Staaten Europas und Amerikas übernommen wurde. Der Goldstandard ist ein Währungssystem, in dem als Großgeld nur Goldmünzen und Banknoten umlaufen. Silber, das seit dem Mittelalter das Haupt-Währungsmetall war, lief seitdem außerhalb Asiens fast nur noch als unterwertig ausgeprägtes Kleingeld (Scheidemünze) um.

Um Banknoten zu einem verläßlichen Zahlungs- und Wertaufbewahrungsmittel zu machen, hatten Notenbanken unter dem Regime des Goldstandards die Pflicht, ihr Papiergeld jederzeit auf Verlangen in Gold einzulösen und dafür einen Vorrat an Gold zu halten. Die meisten Währungsgesetze schrieben einen Deckungsstock von einem Drittel der Notenemission vor. Eine Banknote war also vor 1914 so etwas wie eine Anweisung auf Gold - so gut wie dieses, nur bequemer im Zahlungsverkehr zu gebrauchen.

Die Entdeckung neuer Silberlager in den USA, neue Schmelzverfahren, vor allem aber die Demonetisierung des Silbers ließen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts den Preis von Silber verfallen. Um den Zahlungsverkehr mit Goldmünzen auszustatten und die vorgeschriebene Goldreserve aufzubauen, kauften die europäischen und amerikanischen Notenbanken Gold auf und verkauften Silber. Um 1900 bekam man für Silber nur noch etwa halb so viel Gold wie 1870. Dadurch sanken die Preise vieler Welthandelswaren in den Goldwährungsstaaten, denn sie konnten nun Einfuhren aus Staaten, die noch am Silber festhielten, mit etwa der halben Menge Gold, die früher nötig war, bezahlen. Außerdem wurde Kredit knapp, weil die Deckungspflicht die Fähigkeit der Banken, Kredit zu schöpfen, beschränkte.

Die Deflation der Bismarckzeit traf vor allem die Produzenten von Agrargütern und anderen Rohstoffen. Im Mittleren Westen der USA begründete sie eine Landvolk-Bewegung, die alle Schuld dem Geldadel an der Ostküste, Wall Street, zuschrieb und eine Reflation des Preisniveaus durch Wiedereinführung der bimetallischen Währung forderte. In Deutschland setzte die Lobby der Großlandwirte Agrarschutzzölle durch.

Gesell ging 1887 nach Buenos Aires, um mit zahnmedizinischem Gerät zu handeln. Sein Geschäft war eine Filiale einer Handelsfirma, die zwei seiner Brüder in Berlin betrieben. Argentinien war damals ein Schwellenland auf dem Weg zum entwickelten Agrarstaat. Es exportierte hauptsächlich Weizen und Wolle, litt aber - wie fast die ganze Welt - unter den Anpassungsproblemen, die der Übergang zur Goldwährung verursachte. Das Bankenwesen der lateinamerikanischen Staaten war damals noch ganz in privater Hand und wurde sehr spekulativ betrieben. Zentralnotenbanken, die das Geldangebot gemäß den Bedürfnissen der Gesamtwirtschaft steuerten, fehlten noch, es gab dramatische Vertrauenskrisen, wodurch die Wirtschaftsentwicklung recht sprunghaft verlief. Über den Zustand der argentinischen Wirtschaft ausgangs des 19. Jahrhunderts schrieb ein Gesell-Biograph:

"Das Preisniveau sank wegen des relativen Mangels an Geld und die wirtschaftliche Entwicklung kam zum Erliegen. Bankrotte, Arbeitslosigkeit und Defizite im Staatshaushalt waren die Folgen, die die Regierung durch einen Übergang zu einer systemlosen Papiergeldwirtschaft bekämpfte. Die sich nunmehr einstellende Inflation wurde wiederum mit einer Politik des deflationären Preisabbaus beantwortet, die die Wirtschaft erneut lähmte.
Diese großen Preisniveauschwankungen gaben Silvio Gesell den Anstoß, sich im Interesse seiner eigenen Geschäfte eingehend mit dem Geldwesen zu beschäftigen. Leichter als in Europa, wo die moderne Wirtschaftsform sich bereits als eine Selbstverständlichkeit eingespielt hatte, konnte er ihre Grundprinzipien hier in Argentinien im Frühstadium ihrer Entfaltung studieren. Gesell beobachtete die Entwicklung des Preisniveaus sehr genau und gelangte zu Schlußfolgerungen, die ihm gestatteten, seine Geschäfte durch geschicktes Disponieren vor Schäden zu bewahren und sich trotz aller äußeren Wirrnisse ein ansehnliches Vermögen zu erarbeiten." (Onken, S. 7)

Das erlaubte es ihm, 1898 seine Geschäfte in Argentinien einem jüngeren Bruder, der seit 1895 Teilhaber war, später seinen Söhnen zu übertragen. Gesell erwarb einen Bauernhof bei Neuchátel im Schweizer Jura und betätigte sich fortan als Landwirt und Schriftsteller, mit starkem Sendungsbewußtsein, das ihn antrieb, sich unermüdlich durch Vorträge, Briefe und Denkschriften in das politische Tagesgeschäft einzumischen. Er arbeitete sich im Selbststudium durch nationalökonomische und geschichtsphilosophische Literatur und gab eine Flut von eigenen Schriften heraus, deren Verbreitung er teils selbst finanzierte. Seine gesammelten Werke umfassen 18 Bände, einschließlich der Briefe. Gesell wurde nach und nach der führende Kopf einer linksliberal-anarchistisch gesinnten Sozialreform-Bewegung, die Freiland-Freigeld-Bund, auch Freiwirtschaftsbund hieß. Ihr Anliegen wird heute von einer in Hamburg sitzenden "Stiftung für die Reform der Geld- und Bodenordnung", die sich der Pflege des Geisteserbes von Silvio Gesell angenommen hat, vertreten.

3.2. Freigeld

Unter dem Regime des Goldstandards ist das Banknotenvolumen proportional zum Vorrat an Währungsgold. Das Bargeldangebot hängt also von den Kosten der Produktion von Gold, anderen Verwendungen (Industrie-, Schmuckgold) und wohl auch etwas vom Zufall (Goldfunde) ab. In Staaten, die nicht über eigene Goldvorkommen verfügen, ist der Außenhandel der wichtigste Bestimmungsfaktor der Goldreserve. Es bleibt den Warenpreisen, Löhnen und Zinsen überlassen, sich so einzupegeln, daß die Volkswirtschaft stets über genügend Währungsgold verfügt, um ein Vollbeschäftigung sicherndes Bargeldangebot bereitzustellen. In der Theorie des Goldstandards wird davon ausgegangen, daß der zwischenstaatliche Waren- und Kapitalverkehr diese Anpassung stets prompt leistet; man bezeichnet das als automatischen Zahlungsbilanzausgleich bzw. Goldautomatismus. In der Praxis hat sich aber gezeigt, daß Preisrigiditäten, Zölle und Finanzspekulation (das sind Geldbewegungen, denen kein Warengeschäft zugrundeliegt) das System daran hindern, so geschmeidig zu arbeiten, wie es seine Propagandisten behaupten.

Freigeld bedeutet: ein von der Herrschaft des Zinses befreites Geld. Gesell erklärte Wirtschaftskrisen mit der oben dargestellten Argumentation als Ergebnis eines durch seine Bindung ans Gold falsch konstruierten Geldwesens, das den Finanzkapitalisten die Macht verleihe, von den Warenproduzenten eine ihren Ansprüchen genügende Rendite zu erpressen. Er sah die Lösung des Problems freilich nicht wie die Kirchenväter darin, die Zinsnahme zu verbieten oder, wie Marx, das Privateigentum an Produktionsmitteln abzuschaffen. Er schlug vor, Banknoten auszugeben, die jeden Monat etwa ein halbes Prozent ihres Nennwertes verlieren - ein Geld also, das seiner Wertaufbewahrungsfunktion beraubt ist, "rostet" und verdirbt wie Ware. In der deutschsprachigen Literatur heißt es gewöhnlich Schwundgeld, in der angelsächsischen Briefmarken- oder Stempelgeld (stamp scrip). Keynes erklärte diesen Namen damit, daß die Noten "ihren Wert nur bewahren, wenn sie jeden Monat ähnlich wie eine Versicherungskarte mit auf dem Postbureau gekauften Marken gestempelt würden." (Keynes, S. 302)

Die Strafgebühr auf Hortung soll Finanzkapitalisten einen starken Druck auferlegen, eingenommenes Bargeld rasch wieder auszugeben oder es einer Bank als Spareinlage zu überlassen oder Wertpapiere zu erwerben. Da sie bereits einen Vorteil daraus ziehen, der Abwertung zu entgehen, werden sie bereit sein, ihren Anspruch auf Zins zu mäßigen. Gesell erwartete, daß ein allzeit reichliches Angebot an billigem Sparkapital den Darlehenszins so stark absenkt, daß dadurch schließlich nur noch das Kreditrisiko und die Kosten der Verwaltung des Kredits entgolten werden. Das Abschmelzen der Monopolkomponente im Geldzins (Urzins) werde massenhaft Investitionen anregen und den volkswirtschaftlichen Kapitalstock so anschwellen lassen, daß der Zins geradezu in einem Meer von Kapitalgütern ersäuft werde. Die durch die Mechanik von Zins und Zinseszins bewirkte Konzentration des Volksvermögens in den Händen weniger Familien werde zum Stillstand kommen und die Klasse der Rentiers, die nur von arbeits- und mühelosem Einkommen leben, infolge Verzehrs ihrer nicht mehr wachsenden Vermögen nach und nach aussterben.

Schwundgeld kann eine Schrumpfung der Wirtschaft bekämpfen, weil der ihm innewohnende Umlaufzwang den in Krisenzeiten üblichen drastischen Rückgang der Geldumlaufsgeschwindigkeit verhindert. Es bietet aber noch keine Garantie für dauerhafte Stabilität. Der Finanzspekulation wird der Boden erst dann entzogen, wenn gar keine Veränderung des Preisniveaus, des Zinses und der Wechselkurse mehr zu erwarten ist. Um dem Geld gleichbleibende Kaufkraft zu sichern, muß die umlaufende Geldmenge stets mit dem Angebot an Waren und Dienstleistungen in Einklang gehalten werden. Steigen die Güterpreise auf breiter Front, so ist das ein Zeichen, daß zu viel Geld umläuft. Die Notenbanken müssen dann Banknoten durch Reduktion ihrer Ausleihungen und durch Verkauf von Wertpapieren ans Publikum aus dem Verkehr ziehen. Sinken die Güterpreise auf breiter Front, so ist das ein Zeichen, daß zu wenig Geld umläuft. Die Notenbanken müssen dann umgekehrt verfahren.
Gesell schlug vor, diese Aufgabe einem Währungsamt zu übertragen, das allein zur Ausgabe von Banknoten berechtigt und nur dem Ziel, den amtlichen Index der Lebenshaltungskosten konstant zu halten, verpflichtet ist. Dessen Noten brauchen keiner Deckungspflicht zu unterliegen. Jedes Gut, das sich eine Gesellschaft durch Konvention oder hoheitlichen Akt zum Geld erwählt, wird dadurch universell verwendbar und ist bereits durch diese Fähigkeit wertvoll. Seine Deckung besteht gewissermaßen im Warenangebot, denn jedes Angebot von Ware ist zugleich Nachfrage nach Geld. Folglich genügt es, das Geld im Verhältnis zum Handelsvolumen knapp zu halten, damit es seine Kaufkraft behält. Gesell war der erste Nationalökonom, der lehrte, daß die Wertschätzung des Geldes nicht auf seinem Stoffwert, sondern auf dem immensen Nutzen, den es im Verkehr der Menschen miteinander stiftet, beruht. Die Erfahrung zeigt, daß die Vorteile aus der Benutzung von Geld im Wirtschaftsverkehr so groß sind, daß die Menschen sogar in Perioden mäßiger Geldentwertung nicht darauf verzichten, es zu benutzen, es erst im Falle äußerster Zerrüttung der Währung zurückweisen.

Gesell bezeichnete die von ihm vorgeschlagene Geldordnung als Festwährung, auch als "absolute Währung", weil sie Sparern und Investoren verläßliche Grundlagen für ihre Anlageentscheidungen, "absolute Gewähr" gibt. Sein Währungsamt-Projekt enthält bereits die Grundlagen der Geldmengensteuerung, die heute von den meisten Zentralnotenbanken der Welt praktiziert wird. Um den Einfluß von Wechselkursen auf das Preisniveau zu mildern, schlug er vor, die bedeutenden Welthandelsnationen auf einer internationalen Konferenz darauf zu verpflichten, ihre Währungen nach einheitlichem Prinzip zu managen und ein Internationales Währungsbüro zu errichten, das Kursschwankungen entgegenarbeiten sollte.
Gesells Festwährung-Projekt erscheint auf den ersten Blick paradox - periodische Abwertung des Geldes, um sicherzustellen, daß es seinen Wert behält. Aber man  muß sich klar machen, daß der "Schwund" nur die Vermögen der Bargeldbesitzer trifft. Die Menge des umlaufenden Geldes, die für die Entwicklung des Preisniveaus maßgeblich ist, wird dadurch nicht beeinflußt (allenfalls geringfügig reduziert, wenn Bargeldbesitzer den Kauf von Aufwertungsmarken unterlassen). Der Zweck der Abwertung besteht ja eben darin, den Umlauf zu stabilisieren. Dieser Unterschied wurde von vielen Kritikern Gesells, die ihm vorwarfen, seine Schwundgeld-Währung wirke inflationär, nicht verstanden. (z. B. Feder 1923, S. 173)

3.3. Freiland

Die zweite große Kraft, die Marktmacht schafft und die Gesellschaft in eine Rentnerklasse und eine arbeitende Klasse scheidet, ist das Privateigentum an Grund und Boden. Es trägt dazu bei, den "Sockelzins", der von einer Geldanlage mindestens erwartet wird, auf hohem Niveau zu befestigen, denn solange man durch Erwerb von Grundstücken eine Rendite erzielen kann, wird kein vernünftig handelnder Anleger sich Wirtschaftszweigen zuwenden, die nicht eine mindestens gleich hohe Rendite abwerfen. Diese Lehre heißt Fruktifikationstheorie des Zinses, stammt von dem Franzosen Anne Robert Jacques de Turgot, der Finanzminister Ludwigs XV. war, und ist der erste Versuch überhaupt, das Zinsproblem mit Hilfe der neuzeitlichen Wirtschaftslehre zu erklären.
Wegen der im Bodenmonopol angelegten Grundrente hat die von Gesell angestrebte Null-Zins-Wirtschaft auch die Abschaffung des Privateigentums an Grund und Boden zur Voraussetzung. Allerdings verlangte Gesell nicht wie die radikalen Bodenrecht-Reformer seiner Zeit die entschädigungslose Enteignung der Grundeigentümer, sondern allmählichen Rückkauf von Grund und Boden durch die öffentliche Hand. Das ins Gemeineigentum überführte Land sollte langfristig an den Meistbietenden zur privaten Nutzung verpachtet, dadurch der Produktionsfaktor Boden seiner jeweils besten Verwendung zugeführt werden.

4. "Marktwirtschaft ohne Kapitalismus"

Gesells Freiland-Freigeld-Programm ist der Entwurf einer "Marktwirtschaft ohne Kapitalismus", eine ordnungspolitische Alternative zum Sozialismus und zum Kapitalismus. Er predigt darin die Verwirklichung des freien Leistungswettbewerbs durch größtmögliche Beschränkung der Macht - Abschaffung sämtlicher privater Monopolstellungen und Beschränkung des Staates auf das Geldwesen und die Grundfunktionen Rechtswesen und Öffentliche Ordnung. Gesell erweist sich damit als ein radikal Liberaler, der den Ideen des "Dritter-Weg-Theoretikers" Franz Oppenheimer nahesteht. Oppenheimer war einer der geistigen Väter des Ordoliberalismus.
In seinem Spätwerk rankte Gesell um den "ökonomischen Kern" seines Programms eine Sozialutopie, die es schwer macht, ihn einer der gängigen weltanschaulichen Richtungen zuzuordnen. Er verlangte darin die Zurückführung des Staates auf einen genossenschaftlich-kommunalen Rest, der nach selbst gewähltem Recht leben sollte. Die Einnahmen aus der Verpachtung von Grund und Boden wollte er ganz Müttern zufließen lassen, um ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von den Männern aufzuheben. Er erhoffte sich davon eine Selektion, die Geldheiraten durch Liebesheiraten ersetzt. Paarungen sollten - dem Tierreich abgeschaut - hauptsächlich durch freie Wahl des weiblichen Partners zustande kommen, Mütter sich durch das Müttergehalt voll und ganz der Erziehung von Kindern widmen können, die Menschheit dadurch nach und nach körperlich und sittlich veredelt werden. Gesell war ein Anhänger der Lebensreform-Bewegung, die in der Wilhelminischen Zeit in Deutschland entstand. Er lebte selbst mehrere Jahre in der Gartensiedlung Eden, einer von Naturfreunden begründeten Obstbaugenossenschaft in Oranienburg bei Berlin, und hatte außer seinen ehelichen Nachkommen Kinder aus drei unehelichen Beziehungen.
Seine von der Evolutionstheorie Charles Darwins und den Philosophen Friedrich Nietzsche und Max Stirner beeinflußte Sozialphilosophie und die Übernahme seiner Lehre von der Zinsknechtschaft ins Programm der völkischen Bewegung haben Gesell den Vorwurf eingetragen, daß er ein Vordenker und Wegbereiter des Faschismus war. Tatsächlich hoffte er eine Zeitlang, die völkische Fraktion in der Freiwirtschaftsbewegung durch Annäherung für seine Ziele zu gewinnen. Jedoch erschien ihm das bald als Irrweg. In den 1920er Jahren hat er allen Versuchen, der Freiwirtschaftslehre eine rassistisch-nationalistische Weltanschauung überzustülpen, öffentlich widersprochen. Gottfried Feder distanzierte sich schon 1920 in der Zeitschrift "Hammer" von Gesell - er verbreite eine gefährliche Irrlehre, die in vielen Köpfen Verheerungen anrichte und für das deutsche Volkstum geradezu tödlich sei. (Feder 1920). Die beiden trafen sich nur einmal, in München im April 1919 - die Begegnung sei zufällig und beidseitig von Unverständnis gekennzeichnet gewesen. (Onken, S. 59) Über den  o. g. Artikel schrieb Gesell seinem Mitstreiter Georg Blumenthal, die ganze Borniertheit Feders komme darin recht hübsch zum Vorschein. (Gesell, Bd. 18, S. 222)

Silvio Gesell auf einer Tagung des Rings der revolutionären Jugend in Kassel, Ostern 1926

5. Finanzminister in der Münchener Räterepublik (1919)

Während seiner Zeit in Eden schloß Gesell eine Seelenverwandtschaft mit dem Kulturphilosophen Gustav Landauer, einer der Berliner Freigeister, die im Herbst 1918 in München die Revolution organisierten. Im März 1919, noch unter sozialdemokratischer Regierung, wurde er gebeten, in deren Sozialisierungskommission einzutreten. Als Gesell Anfang April in München eintraf, war diese Regierung nach Bamberg vertrieben und wurde eben die erste Räterepublik ausgerufen. Am 7. April 1919 wurde Gesell vom Vollzugsrat der Arbeiterräte Bayerns zum Volksbeauftragten für das Finanzwesen gewählt. Er entwarf in hektischer Arbeit ein Finanzprogramm, das als Sofortmaßnahme eine große Vermögensabgabe zur Tilgung der während des Weltkrieges aufgetürmten öffentlichen Schuld, langsame Heranführung der Löhne an das inflationierte Preisniveau und auf längere Frist die Einführung der Freigeld-Papierwährung vorsah. Es wurde in sieben Thesen zusammengefaßt in der bayerischen Presse veröffentlicht. Ein Telegramm Gesells an die Reichsbank wurde in den Zeitungen dahin verfälscht, in Bayern wolle man das Bargeld abschaffen. (Engert, S. 24f.) In der Bamberger Zeitung hieß es, Gesell wolle sämtliche Sparkassen- und Bankguthaben in Bayern beschlagnahmen. Diese Meldung habe die Bevölkerung Bayerns bis zum kleinsten Sparer hinunter gegen die Räterepublik aufgebracht, berichtete ein Ministerkollege von Gesell (Niekisch, S. 37).

Die erste Räteregierung wurde schon nach einer Woche von den Kommunisten gestürzt, Silvio Gesell am 13. April 1919 seines Amtes enthoben. Nach der Eroberung Münchens durch Reichswehr- und Freikorpstruppen wurde er in Haft gesetzt und am 9. Juli 1919 von der wieder ins Amt eingesetzten sozialdemokratischen Regierung wegen Hochverrats angeklagt. Das Standgericht sprach ihn aber in allen Punkten der Anklage frei.

Die Schweiz nahm den Prozeß zum Anlaß, um Gesell als persona non grata die Rückkehr auf seinen Hof zu verweigern. Er lebte danach in dem Dorf Rehbrücke bei Potsdam und in Eden ganz der Propaganda seiner Ideen - von seinen Anhängern geradezu halbreligiös verehrt (Keynes, S. 299), wegen seiner Frontstellung sowohl zum völkisch-bürgerlichen als auch zum sozialdemokratisch-marxistischen Milieu aber politisch ohne Bündnispartner und Einfluß. Obwohl Gesell die Wirtschaftskatastrophen, die die Politik der Reichsbank zur Inflationszeit und die Reparationspolitik der Siegermächte und der Reichsregierung auslösten, treffsicher voraussagte, wurde er von der Fachwissenschaft im Großen und Ganzen ignoriert oder als überspannter Schwärmer abgetan. Er starb 1930 in Eden. Die Aufwertung seiner Lehre während der Weltwirtschaftskrise erlebte er nicht mehr. Damals gaben mehrere Gemeinden in Europa und den USA Schwundgeld heraus. Das bekannteste Experiment veranstaltete die österreichische Gemeinde Wörgl.

6. Das Schwundgeld von Wörgl (1932/33)

Wörgl ist eine Marktgemeinde im Inntal (seit 1951 Stadt), eine von wenigen in Tirol, die bereits in der Zwischenkriegszeit maßgeblich von der Industrie lebten. 1932 hatte Wörgl 4.000 bis 4.500 Einwohner - die Angaben variieren. Seine Industrie bestand aus einem Hauptbetriebswerk der österreichischen Eisenbahn und einigen kleinen Fabriken - Zellulose, Zement, Ziegel, zwei Sägewerke -, die aber allesamt fast still lagen. 1932 war der Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, Wörgls Zahlungsverkehr nahezu eingefroren. Die Gemeinde hatte sich im Laufe der 1920er Jahre hoch verschulden müssen und konnte diese Schuld nun nicht mehr bedienen. Zugleich hatte sie einen Berg von Außenständen bei den kommunalen Steuern. Etwa 400 erwerbsfähige Einwohner Wörgls, die umliegenden Weiler mitgerechnet rund 1.500, waren arbeitslos.

In dieser Lage entschloß sich der Bürgermeister Michael Unterguggenberger, ein Sozialdemokrat, der aus der Eisenbahner-Gewerkschaftsbewegung kam und für anarchistische Ideen aufgeschlossen war, Gesells Theorie auszuprobieren. Er gründete einen Wohlfahrtsausschuß, der das Recht erhielt, selbst gedrucktes Geld auszugeben. Der Ausschuß war also so etwas wie eine gemeindeeigene Notenbank, seine Geldscheine kommunales Notgeld, wie es in Deutschland und Österreich während des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegsinflation zehntausendfach ausgegeben wurde. Um nicht allzu offensichtlich mit dem Monopol der österreichischen Nationalbank in Konflikt zu kommen, nannte Wörgl sein Geld Arbeitswertbescheinigung. Die Gemeinde erwarb es im Verhältnis Eins zu Eins gegen Schilling und zahlte fortan die Löhne ihrer Beschäftigten, Rechnungen von Handwerkern usw. zum Teil mit Notgeldnoten. So kam es in Umlauf.

Arbeitswertbescheinigung der Marktgemeinde Wörgl (Vor- und Rückseite)

Die Arbeitswertbescheinigungen konnten jederzeit auf Verlangen mit einem Abschlag von zwei Prozent in reguläre Schilling-Noten gewechselt werden; für diesen Fall schuf der Wohlfahrtsausschuß einen Deckungsstock in Höhe des Nennwerts seiner Notenemission, der auf ein Sperrkonto der Raiffeisen-Darlehenskasse der Gemeinde eingezahlt wurde. Die Scheine wurden jeden Monat um ein Prozent abgewertet. Eine am 1. Juli 1932 emittierte 100 Schilling-Arbeitswertbescheinigung wurde im August nur noch zu 99 Schilling in Zahlung genommen, im September nur noch zu 98 usw. Um den Kurs pari zu halten, mußten die Bürger Wörgls bei der Gemeinde gestempelte Marken erwerben, die auf der Rückseite der Scheine aufgeklebt wurden. Der Erlös aus dem Verkauf der Marken floß der Gemeindekasse zu.

Das hatte folgenden Effekt. Während die Bürger Wörgls ihr Schillinggeld als Notgroschen hamsterten, gaben sie das Notgeld rasch aus, um die Abwertung nicht tragen zu müssen. Spätestens zum Monatsende trugen sie es zum Bäcker, Metzger, Friseur usw. Die Geschäftsleute waren darüber zwar nicht erbaut, sie hätten Zahlung in Schilling bevorzugt, ließen sich das eine Prozent Abzug aber gefallen, weil sie den Eindruck hatten, daß der Umsatz dadurch stieg. Sie verwendeten das Schwundgeld bevorzugt dazu, Steuerschulden an die Gemeinde, die sie ohne dieses wohl stunden lassen hätten, abzuzahlen. Die Gemeinde gab das Geld sofort wieder aus, ließ Straßen und die Kanalisation instandsetzen, eine Brücke über den Inn bauen, man leistete sich sogar während der größten Not eine neue Skischanze. Die Bürger Wörgls konnten ihre Arbeitswertbescheinigungen auch bei der Raiffeisenkasse auf Sparkonten einzahlen. Diese vergab auf Grundlage dieser Depositen Kredit in Arbeitswertbescheinigungen, auf Grundlage des Deckungsstocks auch Schilling-Wechselkredit an Wörgler Geschäftsleute.

So sorgten die Arbeitswertbescheinigungen für eine wundersame Verflüssigung des Geldmarkts in Wörgl. Zwar war ihr Volumen gering, 32.000 Schiling, aber ihre Umlaufsgeschwindigkeit war viel höher als die des staatlichen Geldes. Die Arbeitslosigkeit ging in Wörgl binnen kurzer Zeit um ein Viertel zurück. In ganz Österreich nahm sie um ein Zehntel zu. Das machte Wörgl zu einem Mekka für Journalisten und Geldtheoretiker. Als der Fall Schule zu machen drohte, sich Nachbargemeindem dem System anschlossen, erwirkte die österreichische Nationalbank ein Verbot der Arbeitswertbescheinigungen.    

7. Nachwirkung

Eine Notenbank, die konkurrierende Geldemittenden duldet, läuft Gefahr, die Kontrolle über die Geldmenge und das Preisniveau zu verlieren. Freilich war diese Kontrolle der Österreichischen Nationalbank 1932 längst entschwunden, denn Deflation verletzt ebenfalls das Stabilitätsziel, und solange es massenhaft unausgenutzte Kapazität gab, war Inflation nicht zu befürchten. Es gibt keine logische Begründung, weshalb Schwundgeld notwendig zu Inflation führen muß. Die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes läßt sich nicht beliebig steigern, und es obliegt bei jedem Geld nur der Weisheit der ausgebenden Stelle, die Emission so zu begrenzen, daß es seinen Wert behält. Vielleicht wäre Österreich der Anschluß an Deutschland erspart geblieben, wenn es damals großzügiger Schwundgeld gedruckt hätte.

Die Versuche mit Schwundgeld in den 1930er Jahren waren alle kurzlebig. Jedoch bewirkten das Versagen des Goldstandards in den 1930er Jahren und die Erfahrungen aus diesen Projekten eine Revision der Geldtheorie, die Gesells Ideen im Wesentlichen anerkannte. Der renommierte amerikanische Geldtheoretiker Irving Fisher - ein Pionier der Preisindex-Forschung - schrieb damals in einem von vielen Blättern nachgedruckten Zeitungsartikel, die USA werde durch richtige Anwendung von Schwundgeld binnen dreier Wochen aus der Depression herauskommen. (Schwarz, S. 14) Die freundlichste Würdigung erhielt Gesell 1936 von John Maynard Keynes. Er nannte den hinter dem gestempelten Geld stehenden Gedanken gesund und prophezeite, daß die Zukunft vom Geiste Gesells mehr lernen werde als von Marx. (Keynes, S. 300ff.) Strittig blieben Fragen der praktischen Durchführung der Schwundgeld-Währung, namentlich die ihr zugrunde gelegte Definition der Geldmenge. Schon Keynes war der Ansicht, daß auch bargeldnahe Substitute - liquide Bankguthaben, Devisen, Juwelen und Edelmetalle - der Abwertung unterliegen müssen, um Ausweichreaktionen vorzubeugen. Gesells Technik der Bargeldabwertung gilt heute als überholt, man kennt Verfahren, die das umständliche Markenkleben überflüssig machen.

Bei der Ordnung des Weltwährungssystems für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Gedanke, Papiergeld müsse durch Edelmetall gedeckt sein, aufgegeben. Lediglich die USA gaben auf ihre Dollarscheine noch eine Einlösegarantie, bis 1971. Die Hortung von Geld spielte unter dem Papiergeldstandard kaum mehr ein Rolle - die schleichende Inflation ließ den Geldwert von alleine schwinden. Aber eine Politik mäßig dosierter Inflation ist, wiewohl sie eine Zeitlang unter Ökonomen hoch im Kurs stand (Phillips-Kurven-Theorem), kein Garant für andauernde Vollbeschäftigung. Sie verfestigt die Inflationserwartung, verfälscht Rentabilitätsberechnungen und führt zur Fehlallokation von Ressourcen, z. B. zu Übertreibungen beim Wohnungsbau. Die Finanzspekulation ist heute mächtiger denn je, viele Staatshaushalte sind durch jahrzehntelang verantwortungslose Spendierhosenpolitik zerrüttet und eine neuerliche Deflation wird zwar für unwahrscheinlich gehalten, aber nicht ausgeschlossen. Vielleicht wird das das Interesse an Gesell wiederbeleben.
 
Literatur
- Bartsch, Günther: Die NWO-Bewegung Silvio Gesells. Geschichtlicher Grundriß 1891 - 1992/93, Lütjenburg 1994.
- Bartsch, Günther: Silvio Gesell, die Physiokraten und die Anarchisten, in: Silvio Gesell. "Marx" der Anarchisten? Texte zur Befreiung der Marktwirtschaft vom Kapitalismus und der Kinder und Mütter vom patriarchalischen Bodenunrecht, hrsg. von Klaus Schmitt, Berlin 1989, S. 11 - 32.
- Engert, Rolf: Silvio Gesell in München 1919. Erinnerungen und Dokumente aus der Zeit vor, während und nach der ersten bayerischen Republik, Hann. Münden 1986.
- Feder, Gottfried: Der deutsche Staat auf nationaler und sozialer Grundlage, 3. Aufl., München 1924.
- Feder, Gottfried: Die Irrlehre des Freigeldes, in: Hammer, Jg. 19, Nr. 441, November 1920, S. 405 - 408.
- Feder, Gottfried: Falsche Propheten und Schwarmgeister, in: Der Nationalsozialist, Beilage zum Völkischen Beobachter vom 27. Oktober 1923.
- Hitler, Adolf: Mein Kampf, Bd. 1, Volksausgabe, München 1943 (Erstdruck 1925).
- Keynes, John Maynard: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin 1966 (Erstdruck 1936).
- Muralt, Alexander von: Der Wörgler Versuch mit Schwundgeld, in: Silvio Gesell. "Marx" der Anarchisten? Texte zur Befreiung der Marktwirtschaft vom Kapitalismus und der Kinder und Mütter vom patriarchalischen Bodenunrecht, hrsg. von Klaus Schmitt, Berlin 1989, S. 275 - 298.
- Niekisch, Ernst: Erinnerungen eines deutschen Revolutionärs, Bd. 1: Gewagtes Leben, 1889 - 1945, Köln 1974.
- Onken, Werner: Silvio Gesell und die Natürliche Wirtschaftsordnung. Eine Einführung in Leben und Werk, Lütjenburg 1999.
- Schwarz, Fritz: Das Experiment von Wörgl, Bern 1951.
- Schmitt, Klaus: Geldanarchie und Anarchofeminismus. Zur Aktualität der Geld-, Zins- und Bodenlehre Silvio Gesells, in: Silvio Gesell. "Marx" der Anarchisten? Texte zur Befreiung der Marktwirtschaft vom Kapitalismus und der Kinder und Mütter vom patriarchalischen Bodenunrecht, hrsg. von Klaus Schmitt, Berlin 1989, S. 33 - 258.
- Silvio Gesell. Gesammelte Werke in 18 Bänden, Lütjenburg.
- Bd. 11: Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld, 4., letztmalig vom Autor überarb. Aufl., Lütjenburg 1991.
- Bd. 14: Der verblüffte Sozialdemokrat. Eine erste Einführung in die Freigeldwelt, von Juan Acratillo (Pseudonym für Silvio Gesell), S. 28 - 57, Lütjenburg 1993.
- Bd. 18: Briefe, Lütjenburg 1997.
- Starbatty, Joachim: Eine kritische Würdigung der Geldordnung in Silvio Gesells utopischem Barataria ("Billig-Land"), in: Fragen der Freiheit. Beiträge zur freiheitlichen Ordnung von Kultur, Staat, und Wirtschaft, Jg. 21 (1977), Folge 129, S. 5 - 31.
- Senft, Gerhard: Weder Kapitalismus, noch Kommunismus. Silvio Gesell und das libertäre Modell der Freiwirtschaft, Berlin 1990.

Erschienen in:  Rainer A. Müller Hrsg., Utopien und utopisches Denken in der Geschichte, München 2004