Leben und Werk des Sozialreformers Silvio Gesell

Eine kurze Übersicht anlässlich seines 160. Geburtstags am 17. März 2022

  In der kleinen Stadt St. Vith in der Eifel, wo Silvio Gesell seine Kindheit und Jugend erlebte, berühren sich die deutschen und französischen Kulturkreise. Seine Mutter war eine französischsprachige und katholische Lehrerin. Sein Vater war ein deutschsprachiger und protestantischer Steuerbeamter. In seinem Elternhaus wurden auch beide Sprachen gesprochen. Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 weckte in der Familie Gesell schon frühzeitig den Wunsch nach einer Aussöhnung zwischen beiden Ländern.

   Die Glaubensunterschiede in seinem Elternhaus führten dazu, dass sich Gesell von den Konfessionen löste und sich für andere geistige Strömungen öffnete: für die französische Aufklärung und auch für Naturwissenschaften.

   In Berlin ließ sich Gesell im Geschäft seiner beiden Brüder zum Kaufmann ausbilden. Nach mehreren Stationen in Malaga/Spanien und Deutschland wanderte er schließlich 1887 nach Argentinien aus. In Buenos Aires eröffnete er ein eigenes Geschäft für zahnärztliche und andere medizinische Artikel.

   Die dortige Wirtschaftskrise brachte Gesell zum Nachdenken über die Ursachen von Inflation und Deflation, von ungerechter Verteilung und Arbeitslosigkeit. Als Hauptursache dieser Probleme erkannte er die Hortbarkeit des Geldes; sie gibt dem Geld die strukturelle Macht, seinen Dienst als allgemeines Tausch- und Kreditmittel entweder von der Zahlung eines Zinses abhängig zu machen oder sich vorübergehend aus dem Geldkreislauf zurückzuziehen. Das bringt den Geldkreislauf und damit die ganze Wirtschaft und Gesellschaft auf komplexe und widersprüchliche Weise durcheinander: Zins und Zinseszins führen zu einer ungerechten Verteilung der Geld- und Produktivvermögen. Die zeitweise Geldhortung bewirkt Absatzstörungen und Arbeitslosigkeit. Außerdem macht sie eine stabilitätsgerechte Steuerung der Geldmenge unmöglich. Das hat Schwankungen der Kaufkraft des Geldes zur Folge, also Inflationen oder Deflationen.

   Um diese Krisen zu überwinden und eine von spekulativen Störungen freie Zirkulation des Geldes zu gewährleisten, schlug Gesell die Einführung von nicht hortbaren „rostenden Banknoten“ vor. Sie sollten den Geldkreislauf verstetigen und das Angebot und die Nachfrage auf allen Märkten in ein Gleichgewicht bringen. Auf dem Kapitalmarkt sollte das Zinsniveau allmählich gegen Null absinken und die Zinsen sollten dann um den Gleichgewichtssatz von null pendeln. Es ging Gesell also nicht um ein Zinsverbot wie im Mittelalter oder um eine Abschaffung der Zinsen. Die Zinsen sollten um null schwanken und mit dieser Dynamik weiterhin für eine dezentrale Lenkung von Ersparnissen in Investitionen sorgen. Aber sie sollten sich mittel- und langfristig zu null ausgleichen, so dass das Geld verteilungsneutral wird. Und als Folge einer Geldreform erwartete Gesell auf dem Arbeitsmarkt Vollbeschäftigung bei flexiblen Arbeitszeiten und vollen Arbeitserträgen. Sobald die Arbeit gerecht entlohnt wird, können die Arbeitenden aus ihrem vollen Arbeitsertrag Anteile von Unternehmen erwerben, zum Beispiel Genossenschaftsanteile. So könne im Laufe der Zeit eine gerechtere Vermögensverteilung entstehen.

   Wenn der bislang gestörte Geldkreislauf also durch eine Umwandlung des hortbaren Geldes in nicht mehr hortbare „rostende Banknoten“ stabilisiert wird, kann sich 1. das Zinsniveau in einem Gleichgewicht von durchschnittlich null einpendeln. Und 2. kommen Zentralbanken bei einem kontinuierlichen Geldfluss in die Lage, die Geldmenge so exakt an das Gütervolumen anzupassen, dass der Geldwert absolut stabil wird.

      Seine Gedanken einer Geldreform legte Gesell in zahlreichen Büchern und Aufsätzen dar, die seit 1891 in deutscher und spanischer Sprache erschienen. Eine 1898 in Argentinien durchgeführte Tornquistsche Bankreform geht auf seine Vorschläge zurück.

   Um die Jahrhundertwende begann Gesell sich auch mit der Bodenreformkonzeption des nordamerikanischen Sozialreformers Henry George zu beschäftigen. Während seiner Zeit in der Schweiz von 1900 bis 1906 verband er den Gedanken einer Gleichberechtigung aller Menschen gegenüber der Erde als unverkäuflichem Gemeinschaftsgut mit seiner Geldreform zu einer umfassenden Theorie der Geld- und Bodenreform.

   Von 1906 bis 1911 war Gesell wieder in Argentinien und entwickelte seine Gedanken über eine gerechte internationale Währungsordnung als Fundament für einen sowohl von Monopolen als auch von Zöllen freien Welthandel. Außerdem beschäftigte er sich mit dem Gedanken, dass die Bodenschätze der Erde nicht länger von Unternehmen und Staaten angeeignet werden dürften. Stattdessen sollten sie als ein gemeinschaftliches Menschheitseigentum von einer internationalen Institution verwaltet werden. Die für ihre private Nutzung erhobene Gebühr sollte der internationalen Institution zufließen und für Wiederaufforstungs- und andere umwelterhaltende Maßnahmen verwendet werden. So sollten eine gerechte internationale Währungsordnung und eine internationale Verwaltung der globalen Ressourcen zum gerechten Frieden in einzelnen Ländern und in der ganzen Welt führen.

   Für einzelne Länder und auch schon für ihre internationale Vernetzung hatte Gesell die bahnbrechende Idee einer freiheitlichen, vom Kapitalismus befreiten Marktwirtschaft, die ihre innere Stabilität bei durchschnittlichen Nullzinsen und bei einer Inflation und Deflation von null finden kann. Während des Ersten Weltkriegs fasste er sie in seinem Hauptwerk „Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“ zusammen. 1916 erschien es zuerst in Berlin und dann in der Schweiz. In ökonomischer Hinsicht waren Gesells Hauptwerk und überhaupt sein umfangreiches Gesamtwerk ein Meilenstein in der ökonomischen Theorieentwicklung. In anderer Hinsicht hatte es allerdings noch zeitgeistbedingte Schwächen. Gesells Menschenbild war von Darwins Evolutionslehre beeinflusst. Sein Verständnis der Geschlechterrollen war noch traditionell. Und auch sein Staatsverständnis war noch unvollkommen.

   Nach dem Ersten Weltkrieg und seiner Beteiligung an der Münchener Räterepublik ließ sich Gesell 1920 in der Nähe von Berlin nieder und baute  seine Theorie einer „Marktwirtschaft ohne Kapitalismus“ weiter aus. Mit einer Denkschrift wies er 1919 die Weimarer Nationalversammlung auf die Notwendigkeit hin, alle Bevölkerungsschichten mit einer gestaffelten, bis zu 75%igen Vermögensabgabe zur Finanzierung der Kriegsfolgen heranzuziehen und dann mit einer kaufkraftstabilen Währung ein solides Fundament für den wirtschaftlichen Neubeginn und die Weimarer Demokratie zu legen. Außerdem trat Gesell für eine Anerkennung der Reparationsforderungen der Siegermächte und für eine Aussöhnung Deutschlands mit seinen westlichen und östlichen Nachbarn ein. Und neben einer sozialen Gerechtigkeit im Inneren sollte eine „Internationale Valuta-Assoziation“ die Voraussetzungen für einen den Weltfrieden fördernden freien und zugleich gerechten Welthandel schaffen.

   In seinen Kommentaren zum damaligen Zeitgeschehen in der Weimarer Republik trat Gesell antisemitischen, rassistischen und nationalistischen Ideologien entgegen. Immer wieder wandte er sich mit Denkschriften und Aufsätzen an die Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung, ohne bei ihnen das erhoffte Verständnis für seine Sozialreformvorschläge zu finden.  Obwohl Gesell während der 1920er Jahre ignoriert oder verlacht und nur selten ernst genommen wurde, hörte er nicht auf, die Öffentlichkeit weiter vor der Gefahr eines erneuten großen Krieges zu warnen und auch die damalige Friedensbewegung aufzufordern, sich stärker für eine Überwindung der wirtschaftlichen Ursachen von Bürger- und Völkerkriegen einzusetzen, statt nur Abrüstungsvorschläge zu machen.

   Der berühmte britische Ökonom John Maynard Keynes brachte wenige Jahre später seine Erwartung zum Ausdruck, „dass die Zukunft mehr vom Geiste Gesells als von jenem von Marx lernen wird“. Und während des Zweiten Weltkriegs hat Keynes seinen berühmten Bancor-Plan für eine neue Weltwährungsordnung entwickelt, der mit Gesells IVA verwandt war. Leider wurde er 1944 auf der berühmten Konferenz in Bretton Woods abgelehnt.

   Seit etwa 2014 leben wir nun in einer Zeit mit negativen Leitzinsen einiger großer Zentralbanken. Vor allem in England und in den USA ist eine wissenschaftliche Diskussion über negative Zinsen in Gang gekommen und auf einmal erkennen einige berühmte Geldtheoretiker und Notenbanker an, dass Silvio Gesell schon vor mehr als 100 Jahren solche Gedanken hatte. Und sie erinnern daran, dass vor allem John Maynard Keynes auch schon die besondere Bedeutung Gesells anerkannt hätte. Marvin Goodfriend von der US-amerikanischen Zentralbank brachte die Idee ins Gespräch, Banknoten mit Magnetstreifen auszustatten und das „Rosten“ der Banknoten in die Magnetstreifen einzuprogrammieren. Gregory Mankiw schrieb unmittelbar nach dem Beginn der Weltfinanzkrise im Jahr 2008 in der „New York Times“, dass die Welt sich auf ein Leben mit negativen Zinsen einstellen müsse – so wie die Mathematiker auch das Rechnen mit negativen Zahlen gelernt hätten. Und sogar der IWF-Ökonom Kenneth Rogoff nannte Gesell 2017 einen „herausragenden Ökonomen“.

   Die Geldpolitik mit Negativzinsen kommt zwar Gesells Geldreform einen Schritt entgegen, indem geringe negative Zinsen für Guthaben von Geschäftsbanken bei Zentralbanken erhoben werden. Aber bislang fehlt ihr das entscheidende Kernstück: das „Rosten“ der gesamten Geldmenge durch die Einführung einer Liquiditätsgebühr (Keynes nannte sie „künstliche Durchhaltekosten des Geldes“). Diesen Mangel versucht die Geldpolitik bisher notdürftig mit dem massenhaften Ankauf von Staats- und Unternehmensanleihen zu kompensieren. Das sog. Quantitive Easing hat jedoch sehr problematische Nebenwirkungen. So wird das widersprüchliche Geflecht aus Negativzinsen und Inflation häufig als Betrug an den Sparern hingestellt. Und unter Berufung auf ein angebliches Recht auf Renditen wird dann voreilig eine Rückkehr zu dauerhaft positiven Zinsen gefordert.

   Wenn demgegenüber eine Liquiditätsgebühr auf die gesamte Geldmenge erhoben würde, könnte sich die bislang auf sehr komplexe und widersprüchliche Weise gestörte Geldzirkulation verstetigen. Unter solchen Umständen würde eine exakte Dosierung der Geldmenge möglich, was wiederum nach einer Übergangszeit auf eine mittel- und langfristige Kombination aus einer Nullinflation/-deflation und eines um null pendelnden Zinsniveaus hinauslaufen könnte – auch bei einem Nullwachstum. Dadurch könnten arbeitende und sparende Menschen gerecht verteilte Lebenschancen und eine über längere Zeiträume stabil bleibende Existenzsicherheit erhalten – vor allem dann, wenn der Allgemeinheit auch noch die entprivatisierten Boden-, Ressourcen- und Klimarenten zugutekämen.

   Wir dürfen nicht vergessen, dass Silvio Gesell seine Reformvorschläge vor mehr als 100 Jahren ausgearbeitet hat. Mit Blick auf die heutigen Zeitumstände müssen sie aktualisiert und weiterentwickelt werden. Aber in ihren Grundzügen sind sie klar und können wichtige Orientierungen geben.

   Die ganze Weltwirtschaft ist heute ein instabiles Kartenhaus aus hochgradig konzentriertem Vermögen einerseits und riesigen Schulden andererseits - weil überall die soziale Gerechtigkeit fehlt. Noch immer sind die Ressourcen der Erde ein Zankapfel zwischen den sie beanspruchenden Konzernen und Staaten. Und die gesamte Erdatmosphäre wird nur sehr unzureichend geschützt. In Europa erleben wir gegenwärtig sogar wieder einen grausamen Krieg. Also wird es höchste Zeit, mit Hilfe von Silvio Gesells Reformideen für soziale Gerechtigkeit und einen Ausgleich zwischen West und Ost, Nord und Süd zu sorgen, damit es friedlicher werden kann auf unserer Einen Welt.

Werner Onken