Übersicht über Leben und Werk


   Silvio Gesell stammte aus dem Kreis Eupen-Malmedy in der Eifel, wo sich die deutschen und französischen Kulturkreise berühren. In seinem Elternhaus wurden auch beide Sprachen gesprochen. Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 weckte in der Familie Gesell schon frühzeitig den Wunsch nach einer Aussöhnung zwischen beiden Ländern.

   Glaubensunterschiede zwischen seiner katholischen Mutter und seinem protestantischen Vater führten dazu, dass sich Gesell von den Konfessionen löste und sich für andere geistige Strömungen öffnete: für die französische Aufklärung, für die philosophischen Gedanken von Stirner und Nietzsche oder auch für die Evolutionslehre von Darwin und Haeckel.

   In Berlin ließ sich Gesell zunächst im Geschäft seiner beiden Brüder zum Kaufmann ausbilden und ging nach mehreren Stationen in Malaga/Spanien und Deutschland schließlich 1887 nach Argentinien, um in Buenos Aires ein eigenes Geschäft für zahnärztliche und andere medizinische Artikel zu eröffnen. Die dortige Wirtschaftskrise brachte ihn zum Nachdenken über die Ursachen von Inflation und Deflation, von ungerechter Verteilung und Arbeitslosigkeit. Gesell erkannte sie in der Hortbarkeit des Geldes; sie gibt dem Geld die strukturelle Macht, seinen Dienst als allgemeines Tausch- und Kreditmittel entweder von der Zahlung eines Zinses abhängig zu machen oder ihn vorübergehend zu verweigern. Beides hat negative Auswirkungen auf die Wirtschaft und Gesellschaft: während Zins und Zinseszins zu einer ungerechten Verteilung der Geld- und Produktivvermögen führen, löst die zeitweise Geldhortung Absatzstörungen und Arbeitslosigkeit aus; außerdem macht sie eine stabilitätsgerechte Steuerung der Geldmenge unmöglich, was Schwankungen der Kaufkraft des Geldes zur Folge hat.

   Um diesen Missständen abzuhelfen und eine von spekulativen Störungen freie Zirkulation des Geldes zu gewährleisten, schlug Gesell die Einführung von nicht hortbaren „rostenden Banknoten“ vor. Sie sollten das Angebot und die Nachfrage auf den Arbeits-, Güter- und Kapitalmärkten in ein Gleichgewicht bringen, damit das Zinsniveau allmählich gegen Null absinken kann. Als Folge davon erwartete Gesell Vollbeschäftigung, Geldwertstabilität und eine gerechtere Einkommens- und Vermögensverteilung.

   Seine Theorie der Geldreform legte Gesell in zahlreichen Büchern und Aufsätzen dar, die seit 1891 in deutscher und spanischer Sprache erschienen. Eine 1898 in Argentinien durchgeführte Tornquistsche Bankreform geht auf seine Vorschläge zurück.

   Um die Jahrhundertwende begann Gesell sich auch mit der Bodenreformkonzeption des nordamerikanischen Sozialreformers Henry George zu beschäftigen. Den Gedanken einer Gleichberechtigung aller Menschen gegenüber der Erde als unverkäuflichem Gemeinschaftsgut verband Gesell mit seinen eigenen Gedanken zu einer umfassenden Theorie der Geld- und Bodenreform. Nach einem längeren Aufenthalt in der Schweiz lebte er von 1906 bis 1911 wieder in Argentinien und entwickelte seine Gedanken über eine gerechte internationale Währungsordnung als Fundament für einen sowohl von Monopolen als auch von Zöllen freien Welthandel. Außerdem beschäftigte sich Gesell mit dem den Weltfrieden fördernden Gedanken, dass die Bodenschätze der Erde nicht länger von Firmen und Staaten angeeignet werden dürften. Stattdessen sollten sie als ein gemeinschaftliches Menschheitseigentum von einer internationalen Institution verwaltet werden. Die für ihre private Nutzung erhobene Gebühr sollte der internationalen Institution zufließen und für Wiederaufforstungs- und andere umwelterhaltende Maßnahmen verwendet werden. Und die öffentlichen Einnahmen aus der privaten Nutzung von Grundstücken sollten für den Unterhalt von Müttern und Kindern verwendet werden.

   Seine Gedanken fasste Silvio Gesell 1916 in seinem Hauptwerk „Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“ zusammen. Während des ersten Weltkriegs erschien es zuerst in Berlin und in der Schweiz. Auf Initiative von Ernst Niekisch und Gustav Landauer beteiligte sich Gesell im April 1919 als Volksbeauftragter für das Finanzwesen an der ersten Bayerischen Räterepublik. Nach deren Sturz geriet er vorübergehend in Haft und wurde schließlich von der Anklage des Hochverrats freigesprochen. Dennoch verweigerte ihm die Schweiz die Wiedereinreise.

   Daraufhin ließ sich Gesell 1920 in der Nähe von Potsdam nieder und baute  sein Modell einer „Marktwirtschaft ohne Kapitalismus“ weiter aus. Dabei knüpfte er außer an Henry George auch an den französischen Sozialreformer Pierre Proudhon an, den Karl Marx ebenso wie die Frühsozialisten Saint-Simon und Fourier heftig bekämpft hatte. Die Wertschätzung für Proudhon verband Gesell mit Gustav Landauer, der seinerseits einen prägenden Einfluss auf den jüdischen Philosophen Martin Buber hatte. Georges Gedanken gelangten durch Theodor Hertzka nach Österreich-Ungarn und durch Michael Flürscheim nach Deutschland, wo sie in abgeschwächter Form durch Adolf Damaschke verbreitet wurden. Ähnlich wie Buber spielte auch der bodenreformerische Soziologe Franz Oppenheimer eine Rolle in den Anfängen der zionistischen Siedlungsbewegung in Palästina. Außer zu Oppenheimers „Liberalsozialismus“ gab es gedankliche Parallelen zur „Dreigliederung des Sozialen Organismus“ in der von Rudolf Steiner begründeten Anthroposophie.

   Innerhalb dieser breit aufgefächerten Suche nach einer freiheitlichen Alternative sowohl zum Kapitalismus als auch zum Marxismus war Gesell derjenige, der die bodenrechtsreformerischen Ansätze am intensivsten um geldreformerische Überlegungen erweiterte. Mit einer Denkschrift wies er 1919 die Weimarer Nationalversammlung auf die Notwendigkeit hin, alle Bevölkerungsschichten mit einer gestaffelten, bis zu 75%igen Vermögensabgabe zur Finanzierung der Kriegsfolgen heranzuziehen und dann mit einer kaufkraftstabilen Währung ein solides Fundament für den wirtschaftlichen Neubeginn und die Weimarer Demokratie zu legen. Außerdem trat Gesell für eine Anerkennung der Reparationsforderungen der Siegermächte und für eine Aussöhnung Deutschlands mit seinen westlichen und östlichen Nachbarn ein. Und neben einer sozialen Gerechtigkeit im Inneren sollte eine „Internationale Valuta-Assoziation“ die Voraussetzungen für einen den Weltfrieden fördernden freien und zugleich gerechten Welthandel schaffen.

   In seinen Kommentaren zum Zeitgeschehen in der Weimarer Republik trat Gesell antisemitischen, rassistischen und nationalistischen Ideologien entgegen. Immer wieder wandte er sich mit Denkschriften und Aufsätzen an die Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung, ohne bei ihnen das erhoffte Verständnis für seine Sozialreformvorschläge zu finden. „Lange Jahre war ich in Sorge, dass ich verunglücken könnte, ehe ich meinen Fund seinem rechtmäßigen Eigentümer ausgehändigt hätte“, schrieb Gesell in seiner Münchener „Verteidigungsrede“ über seine der Arbeiterbewegung zugedachte Geld- und Bodenrechtsreform. „Seit 30 Jahren bin ich bestimmt nicht ein einziges Mal zu Bett gegangen, ohne mich zu fragen, was ich noch tun könnte, um meinen Schatz zum Gemeingut zu machen.“  Obwohl Gesell während der 1920er Jahre ignoriert oder verlacht und nur selten ernst genommen wurde, hörte er nicht auf, die Öffentlichkeit weiter vor der Gefahr eines erneuten großen Krieges zu warnen und auch die damalige Friedensbewegung aufzufordern, sich stärker für eine Überwindung der wirtschaftlichen Ursachen von Bürger- und Völkerkriegen einzusetzen.  

   Der Dichter Erich Mühsam nannte Gesell in einem Nachruf einen „sozialen Wegbahner von größtem geistigen Wuchs“. Und der berühmte britische Ökonom John Maynard Keynes brachte wenige Jahre später seine Erwartung zum Ausdruck, „dass die Zukunft mehr vom Geiste Gesells als von jenem von Marx lernen wird“.

Werner Onken